Das verlorene Ich
klang sie ihm noch immer fast täglich in den Ohren. Als wollte er sich ihrer ständig erinnern. Nun, da er die Gestalt des anderen sah, hatte er nicht den geringsten Zweifel mehr.
Er war zurückgekehrt!
Dieser Narr .
Scheinbar unbewaffnet kam er die Stufen herab; ganz so, als sei nie etwas geschehen, das ihre Freundschaft beendet hatte.
Vautier hatte sich diesen Augenblick tausende Male ausgemalt, und er hatte sich geschworen, bis zum Gehtnichtmehr hinauszuzögern, was danach geschehen mußte. Jetzt aber, da es soweit war, warf er all diese Gelüste an quälend langer Rache über Bord.
Eine ruckartige Bewegung seines rechten Handgelenks. Ein feines Klicken. Dann rutschte die kleine Pistole aus seinem Jackenärmel und in seine Hand. Wie von selbst flog seine Rechte hoch. Eine heller Knall - - und Simone schrie auf!
Mit einem Sprung, den niemand ihrer ausgemergelten Gestalt zugetraut hätte, hatte sie sich in die Schußbahn geworfen und die Kugel abbekommen, die für Hector Landers bestimmt gewesen war!
Die zweite traf ihn.
Landers stürzte zurück, und für Vautier sah es aus, als verschlängen ihn die Schatten dort oben. Eilends wollte er die Treppe hoch, doch ein eisiger Griff am Knöchel hielt ihn zurück, ließ ihn straucheln. Simone hing an seinem Bein, sich wie irrsinnig gebärdend, geifernd und fauchend.
Mit dem freien Fuß trat er nach ihr - und traf sie unglücklich. Tödlich.
Sein Tritt erwischte sie unter dem Kinn, riß ihr den Kopf in den Nacken. Knack! Als würde ein Stück Holz brechen. Simone erschlaffte.
Vautier zerbiß einen Fluch. Das hatte er nicht gewollt. Nicht, weil er Simones Leben aus sentimentalen Gründen hatte schonen wollen. Nein, sie hatte den Tod verdient, wenn sie Jeromes Mörder in ihrem Haus verbarg. Aber er hatte ihr noch ein paar Fragen stellen wollen über die Vorfälle von damals. Denn Vautier ahnte, daß er bislang wohl nur die halbe Wahrheit gekannt hatte - wenn überhaupt ...
Endlich stürmte er weiter, zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe empor. Aus der Nähe vermochte er nun auch hier Details auszumachen.
Eine Pfütze auf der vorletzten Stufe, im Kerzenlicht dunkler, als Blut es tatsächlich war. Eine dünne Tropfenspur, die davon wegführte und nach kaum drei Metern endete.
Doch keine Spur von Hector Landers.
Vautier durchsuchte das gesamte Stockwerk und schließlich auch Erdgeschoß und Keller. Doch ohne den Mörder seines Sohnes zu finden.
Simones Leichnam würdigte er keines Blickes, als er das Haus verließ. Darum sollten sich andere kümmern. Giordan Vautier hatte wichtigeres zu tun.
Er mußte die Jagd auf einen Mann eröffnen.
Eine Jagd, wie Paris sie noch nicht erlebt haben sollte.
*
Sydney, Australien
Bei jedem einzelnen Schritt, den Lilith vor den anderen setzte, rechnete sie instinktiv mit einem Zwischenfall, über dessen Beschaffenheit sie im voraus keine noch so verschwommene Vorstellung hatte.
Ihre Vorahnung beschränkte sich einzig auf das Gefühl, etwas könnte, nein müßte passieren.
Als sie dem Gedränge des Flughafenterminals entfloh und hinaus in die pralle Mittagssonne trat, wurde es für sie endlich ein wenig leichter, zu glauben, daß sie tatsächlich die Hemisphäre gewechselt hatte. Gespenstisch blieb das, was sie sich vorgenommen hatte, trotzdem.
Irgendwie war alles, was sie tat, irreal. Manchmal verlor sie regelrecht den Kontakt zum Boden unter ihren Füßen. Dann trieben Zeit und Raum an ihr vorbei, als wäre sie nicht mehr Bestandteil davon Benommen bestieg sie in eines der wartenden Taxis, setzte sich neben den Fahrer - nicht in den Fond - und sagte rauh: »Bringen Sie mich zur Paddington Street!«
Der Fahrer drehte ihr das Gesicht zu und konfrontierte sie mit ihrem Fluch: In den verspiegelten Gläsern seiner Sonnenbrille erinnerte die verschwommene Kontur einer häßlichen Schattenchimäre Lilith daran, warum sie auch hier war.
In Erfahrung zu bringen, was sie eigentlich war, was für ein eigenartiges Monstrum, schien noch wichtiger als die Antwort auf die Frage, wer sie war .
Der Fahrer schwitzte, und der Geruch, der Lilith wie die Witterung eines gehetzten Tieres vorkam, ließ sie unruhig auf ihrem Sitz hin und her rutschen.
»Sie haben kein Gepäck?«
Seine Stimme entlockte ihr einen kehligen Laut. Ihre Hände krallten sich in das Polster rechts und links ihrer Hüften.
Sie . nein, es war kein Moment des Wiedererkennens einer Situation oder eines Ortes. Es war schlicht und einfach - - GIER!
Gier auf einen
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