Das Verlorene Labyrinth
geschehen zu lassen. Sich ganz in seine Hände zu geben.
Sie schloss die Augen, fühlte schon fast seine Finger über ihre Haut gleiten. Eine Liebkosung, hauchzart und so natürlich wie Atmen. Alaïs stellte sich vor, wie sie sich gegen ihn sinken ließ, von ihm umfasst und gehalten wurde. Seine Gegenwart machte sie schwindelig, machte sie schwach.
Ich kann nicht. Darf nicht.
Alaïs zwang sich, die Augen zu öffnen, und trat einen Schritt zurück. »Nicht«, flüsterte sie. »Bitte nicht.«
Guilhem nahm ihre Hand und hielt sie zwischen seinen. Alaïs sah ihm an, dass er nervös war.
»Schon bald ... falls Gott nicht einschreitet, werden wir ihnen entgegentreten. Und wenn die Zeit gekommen ist, werden Al- zeu, Thierry, die anderen, wir alle hinausreiten. Und vielleicht nicht zurückkehren.«
»Ja«, sagte sie leise und wünschte, dass sich wieder ein wenig Leben in seinem Gesicht zeigen würde.
»Seit unserer Rückkehr aus Besiers habe ich mich Euch gegenüber schlecht verhalten, Alaïs , ohne Grund oder Rechtfertigung. Es tut mir Leid, und ich bin hier, weil ich Euch um Verzeihung bitten will. Zu oft bin ich eifersüchtig, und aus Eifersucht sage - tue - ich Dinge, die ich bedauere.«
Alaïs hielt seinem Blick stand, war sich ihrer Gefühle unsicher, traute ihrer eigenen Stimme nicht.
Guilhem trat näher. »Aber Ihr seid nicht ungehalten, mich zu sehen.«
Sie lächelte. »Ihr habt Euch so lange von mir fern gehalten, Guilhem, dass ich kaum weiß, was ich empfinde.«
»Wünscht Ihr, dass ich Euch allein lasse?«
Alaïs merkte, wie ihr die Tränen kamen, und das gab ihr den Mut, ihm zu widerstehen. Sie wollte nicht, dass er sie weinen sah.
»Ich glaube, das wäre besser.« Sie griff in den Halsausschnitt ihres Gewandes und zog ein Tüchlein heraus, das sie ihm in die Hand drückte. »Es ist noch Zeit, zwischen uns alles wieder ins Lot zu bringen.« »Zeit ist das Einzige, was wir nicht haben, Alaïs «, sagte er sanft. »Aber, so Gott und die Franzosen es erlauben, werde ich morgen wiederkommen.«
Alaïs dachte an die Bücher und an die Verantwortung, die auf ihren Schultern ruhte. Dass sie schon bald aufbrechen würde. Vielleicht sehe ich ihn nie wieder. Es zerriss ihr das Herz. Sie zögerte und umarmte ihn dann so wild, als wollte sie seine Umrisse auf ihren Körper stempeln.
Und dann ließ sie ihn so unvermittelt wieder los, wie sie ihn an sich gezogen hatte.
»Wir sind alle in Gottes Hand«, sagte sie. »Und jetzt geht bitte, Guilhem.«
»Morgen?«
»Wir werden sehen.«
Alaïs stand da wie eine Statue, die Hände fest vor dem Körper gefaltet, um das Zittern zu unterdrücken, bis die Tür sich geschlossen hatte und Guilhem fort war. Dann ging sie nachdenklich zurück zu dem Tisch und fragte sich, was ihn wohl veranlasst hatte, zu ihr zu kommen. Liebe? Reue? Oder etwas ganz anderes?
Kapitel 46
S imeon blickte zum Himmel hinauf. Graue Wolken jagten dahin und verhüllten die Sonne. Er war schon ein gutes Stück von der Cité entfernt und wollte seine Unterkunft erreichen, ehe das Unwetter losbrach.
Sobald er den Saum des Waldes erreicht hatte, der das Flachland vor Carcassonne vom Fluss trennte, verlangsamte er seinen Schritt. Er war außer Atem, zu alt, umso weite Strecken noch zu Fuß zu bewältigen. Er stützte sich schwer auf seinen Stab und lockerte den Halsausschnitt seines Gewandes. Es war jetzt nicht mehr weit. Esther hatte bestimmt eine warme Mahlzeit vorbereitet, vielleicht ein wenig Wein. Der Gedanke machte ihm Mut. Vielleicht hatte Bertrand Pelletier doch Recht? Vielleicht war das alles im Frühjahr schon vorbei.
Simeon bemerkte die beiden Männer nicht, die hinter ihm auf den Pfad traten. Er sah nicht den erhobenen Arm, die Keule, die auf seinen Kopf niedersauste, bis er den Schlag spürte und Dunkelheit ihn umfing.
Als Pelletier an der Porte Narbonnaise eintraf, hatte sich bereits eine gaffende Menschenmenge versammelt.
»Lasst mich durch«, rief er und bahnte sich mit den Ellbogen einen Weg bis ganz nach vorn. Er sah einen Mann auf allen vieren auf dem Boden. Aus einer Wunde an seiner Stirn tropfte Blut.
Zwei Bewaffnete standen neben ihm, die Speere auf seinen Hals gerichtet. Der Mann war offenbar Musikant. Sein Tamburin war durchlöchert, und seine Pfeife war in der Mitte zerbrochen und beiseite geworfen worden, wie Knochen bei einem Festmahl. »Beim Sant Foy, was geht hier vor?«, wollte Pelletier wissen. »Was hat der Mann angestellt?«
»Er ist nicht stehen
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