Das Verlorene Labyrinth
zeigten. Einige wenige waren golden, doch die meisten schwarz.
Alaïs versuchte die Seite von oben links nach unten rechts zu lesen, aber das ergab keinen Sinn, und sie kam nicht weiter. Als Nächstes versuchte sie die Seite von unten nach oben, von rechts nach links zu entziffern, wie ein Bleiglasfenster in der Kirche, aber auch das ergab keinen Sinn. Schließlich las sie nur jede zweite oder nur jede dritte Zeile, verstand aber noch immer nichts.
Schau durch die sichtbaren Bilder auf die darunter verborgenen Geheimnisse.
Sie überlegte angestrengt. Jedem Hüter nach seinen Fähigkeiten und Kenntnissen. Esclarmonde hatte die Fähigkeit, Krankheiten zu lindern und zu heilen, deshalb hatte Harif ihr das Buch der Arzneien anvertraut. Simeon hatte das uralte jüdische Zahlensystem studiert, daher bekam er das Buch der Zahlen. Dieses Buch.
Was hatte Harif veranlasst, ihren Vater als Hüter für das Buch der Wörter zu erwählen?
Tief in Gedanken versunken entzündete Alaïs die Lampe und ging zu ihrem Nachttisch. Sie nahm ein Stück Pergament, Tinte und Feder. Bertrand Pelletier war der Überzeugung gewesen, dass seine Töchter lesen und schreiben lernen sollten, nachdem er selbst den Wert dieser Fertigkeiten im Heiligen Land schätzen gelernt hatte. Oriane machte sich nur etwas aus Fähigkeiten, die für eine Dame am Hof angemessen waren - tanzen, singen, sticken und die Jagd mit dem Falken. Schreiben, so wurde sie nicht müde zu betonen, war etwas für alte Männer und Priester. Alaïs dagegen hatte die Gelegenheit mit beiden Händen ergriffen. Sie hatte schnell gelernt, und obwohl sie nur selten dazu kam, ihr Können anzuwenden, war es ihr sehr wichtig.
Alaïs breitete ihre Schreibutensilien auf dem Tisch aus. Sie verstand das Pergament zwar nicht und machte sich auch keine Hoffnungen, der erlesenen Kunstfertigkeit, den Farben und dem Stil gleichzukommen. Aber sie konnte zumindest eine Abschrift anfertigen, solange sich ihr die Möglichkeit bot.
Sie brauchte eine ganze Weile, aber schließlich war sie fertig und ließ das Pergament zum Trocknen auf dem Tisch liegen. Dann fiel ihr ein, dass ihr Vater jeden Augenblick mit dem Buch der Wörter ins Chateau Comtal zurückkehren könnte, und sie machte sich daran, das Buch so zu verbergen, wie ihr Vater es vorgeschlagen hatte.
Ihr roter Lieblingsmantel eignete sich nicht dafür. Der Stoff war zu fein, und der Saum würde ausbeulen. Stattdessen entschied sie sich für einen schweren braunen Mantel. Es war ein Kleidungsstück für die Jagd im Winter, aber daran war nun einmal nichts zu ändern. Mit geschickten Fingern löste Alaïs die vordere passementerie, bis der Spalt breit genug war, um das Buch hineinzuschieben. Dann nahm sie den Faden, den Sajhë ihr auf dem Markt geschenkt hatte und der haargenau zur Farbe des Stoffes passte, und nähte das Buch im Rückenteil sicher fest.
Alaïs hielt den Mantel hoch und warf ihn sich um die Schultern. Er war zwar ungleich, aber wenn sie auch noch das Buch ihres Vaters eingenäht hatte, würde nichts mehr auffallen.
Jetzt blieb nur noch eines zu tun. Sie legte den Mantel über den Stuhl und ging zum Tisch zurück, um nachzusehen, ob die Tinte getrocknet war. Ihr war bewusst, dass sie jeden Moment überrascht werden konnte, als sie das Pergament zusammenfaltete und es in ein Lavendelsäckchen schob. Sie nähte die Öffnung zu, damit niemand zufällig auf das Pergament stoßen konnte, und legte das Säckchen unter ihr Kopfkissen.
Zufrieden mit ihrer Arbeit sah Alaïs sich um und räumte ihr Nähzeug zusammen.
Es klopfte an der Tür. Alaïs öffnete sie rasch, erwartete, ihren Vater zu sehen. Stattdessen stand Guilhem auf der Schwelle und wusste nicht, ob er willkommen war. Das vertraute, schwache Lächeln, der Kleinjungenblick.
»Darf ich hereinkommen?«, fragte er leise.
Am liebsten hätte sie die Arme um ihn geschlungen. Doch die Vorsicht hielt sie zurück. Es war zu viel gesagt worden und zu wenig verziehen.
»Darf ich?«
»Es ist auch Euer Gemach«, sagte sie leichthin. »Ich kann Euch den Eintritt nicht verwehren.«
»So förmlich«, sagte er und schloss die Tür hinter sich. »Ich wünschte, Ihr würdet mich aus Freude, nicht aus Pflicht hereinlassen.«
»Ich bin ...« Sie zögerte, verlor ein wenig die Fassung, weil ein fast schmerzhaftes Verlangen sie überkam. »Ich bin froh, Euch zu sehen.«
»Ihr seht müde aus«, sagte er und hob die Hand, um ihr Gesicht zu streicheln.
Wie leicht es wäre, es einfach
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