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Das Verlorene Labyrinth

Das Verlorene Labyrinth

Titel: Das Verlorene Labyrinth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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hartnäckigste Gerücht lautet, die >Armen Ritter Christi vom Tempel Salomonis<, also die Templer, hätten die Kathedrale errichtet, und zwar als verschlüsseltes steinernes Buch, ein riesenhaftes Rätsel, das nur von Eingeweihten verstanden werden konnte. Viele glaubten, unter dem Labyrinth seien die Gebeine von Maria Magdalena begraben. Oder sogar der Heilige Gral.«
    »Hat schon mal jemand nachgesehen?«, warf Alice ein und bereute die Frage, kaum dass sie sie ausgesprochen hatte. Missbilligende Augen richteten sich auf sie wie ein Scheinwerferstrahl. Die Fremdenführerin zog die Augenbrauen hoch. »Selbstverständlich. Und mehr als einmal. Aber es wird die meisten von Ihnen wohl kaum überraschen, dass man nichts gefunden hat. Alles reiner Mythos.« Sie hielt inne. »Folgen Sie mir jetzt bitte ins Innere.«
    Betreten ging Alice mit der Gruppe zum Westportal und stellte sich in die Schlange vor dem Eingang. Kaum eingetreten, sprachen alle leise, denn der typische Duft von Stein und Weihrauch entfaltete sogleich seinen Zauber. In den Seitenkapellen und am Haupteingang leuchteten flackernde Reihen von Opferkerzen in der Dunkelheit.
    Alice machte sich auf irgendeine Reaktion gefasst, auf Visionen der Vergangenheit, so wie sie es in Toulouse und Carcassonne erlebt hatte. Aber sie spürte nichts, und nach einer Weile entspannte sie sich und genoss den Rundgang. Aufgrund ihrer Recherchen wusste sie, dass die Kathedrale von Chartres angeblich die schönsten Glasfenster der Welt besaß, aber auf die Leuchtkraft war sie dann doch nicht vorbereitet. Die Fenster mit Darstellungen alltäglicher und biblischer Szenen durchfluteten die Kirche mit einem Kaleidoskop schimmernder Farben. Die Rosetten, das Fenster mit der Blauen Jungfrau, das Noah-Fens- ter, das die Sintflut und die Tiere zeigte, die paarweise in die Arche trotteten. Alice wanderte umher und versuchte sich vorzustellen, wie das alles ausgesehen haben mochte, als die Wände mit Fresken und kostbaren Teppichen, mit golddurchwirkten orientalischen Stoffen und seidenen Bannern geschmückt waren. Für mittelalterliche Augen musste der Gegensatz zwischen der Pracht des Gottestempels und der Welt außerhalb davon überwältigend gewesen sein. Der eindeutige Beweis für Gottes Herrlichkeit auf Erden.
    »Und schließlich«, sagte die Fremdenführerin, »kommen wir zu dem berühmten, in den Boden eingelegten Labyrinth mit seinen elf Umgängen. Es wurde im Jahre 1200 fertiggestellt und ist das größte in Europa. Das ursprüngliche Mittelstück ist längst verschwunden, doch der Rest ist gut erhalten. Christen im Mittelalter bot es die Möglichkeit zu einer spirituellen Pilgerfahrt, statt extra nach Jerusalem zu reisen. Daher wurden Bodenlabyrinthe - anders als die Labyrinthe an den Wänden von Kirchen und Kathedralen - häufig als der chemin de Jérusalem bezeichnet, also als Weg nach Jerusalem. Die Pilger schritten das Labyrinth bis zur Mitte ab, manchmal mehrmals, was eine wachsende Einsicht oder größere Nähe zu Gott symbolisierte. Büßer absolvierten den Gang auf den Knien, was mitunter mehrere Tage dauerte.«
    Mit klopfendem Herzen schob sich Alice unauffällig nach vorn und gestand sich erst jetzt ein, dass sie diesen Moment hinausgeschoben hatte.
    Der Augenblick ist gekommen.
    Sie holte tief Luft. Die Stuhlreihen auf beiden Seiten des Kirchenschiffes, die mit Blick auf den Altar für die Abendandacht aufgestellt worden waren, zerstörten die Symmetrie. Dennoch, und obwohl sie aufgrund ihrer Recherchen wusste, welche Maße das Labyrinth hatte, war sie von der Größe überwältigt. Es beherrschte die gesamte Kathedrale.
    Langsam begann Alice, wie alle anderen auch, das Labyrinth abzugehen, hin und her in sich verengenden und dann wieder weitenden Kreisen, bis sie schließlich nach schier endlosen Umwegen im Zentrum anlangte.
    Sie verspürte nichts. Keinen Schauder, der ihr über den Rücken lief, keinen Augenblick der Erleuchtung oder inneren Wandlung. Nichts. Sie ging in die Hocke und berührte den Boden. Der Stein war glatt und kühl, aber er sprach nicht zu ihr.
    Alice lächelte gequält. Was hast du denn erwartet?
    Sie musste nicht einmal ihre Zeichnung von dem Labyrinth in der Höhle aus dem Rucksack holen, um zu wissen, dass es hier nicht das Geringste gab, das etwas mit ihr zu tun hatte. Alice verabschiedete sich knapp von ihrer Gruppe und ging zum Ausgang.
     
    Nach der sengenden Hitze des Midi war die sanfte Sonne des Nordens eine Wohltat, und Alice

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