Das Verlorene Labyrinth
Telefonnummer. Sekunden später hörte sie drinnen ein Telefon läuten.
Es war das richtige Haus, immerhin.
Sie war enttäuscht, aber, wenn sie ehrlich war, auch erleichtert. Die Konfrontation, falls es denn auf eine hinauslief, konnte ruhig noch warten.
Der Platz vor der Kathedrale wimmelte nur so von Kamera schwenkenden Touristen und Fremdenführern, die Fähnchen oder bunte Regenschirme in die Luft reckten. Ordentliche Deutsche, verklemmte Engländer, modische Italiener, stille Japaner, begeisterte Amerikaner. Und alle Kinder sahen gelangweilt aus. Irgendwann während der langen Fahrt nach Norden hatte Alice den Gedanken aufgegeben, dass sie dem Labyrinth in Chartres irgendetwas Aufschlussreiches entreißen könnte. Dass es mit der Höhle am Pic de Soularac, mit Grace, mit ihr persönlich zu tun hatte, war einfach offensichtlich - zu offensichtlich. Irgendwie hatte sie den Verdacht, auf eine falsche Fährte gelockt worden zu sein.
Trotzdem kaufte Alice sich eine Karte für eine Führung, die in fünf Minuten vor der Kirche beginnen sollte. Die Fremdenführerin war eine energische Frau mittleren Alters mit überheblicher Ausstrahlung und durchdringender Stimme.
»Für unser zeitgenössisches Auge sind Kathedralen graue, himmelstürmende Bauten der Anbetung und des Glaubens. Im Mittelalter jedoch waren sie ungemein farbenfroh, etwa vergleichbar mit Hindu-Tempeln in Indien oder Thailand. In Chartres wie auch sonst überall waren die Statuen und Tympana, die die prächtigen Portale zierten, vielfarbig gestaltet.« Die Fremdenführerin deutete mit ihrem Schirm auf die Fassade. »Wenn Sie genau hinsehen, können Sie noch immer hellrote, blaue und gelbe Farbreste in den Ritzen der Statuen erkennen.«
Um Alice herum nickten alle pflichtschuldig.
»Im Jahre 1194«, fuhr die Frau fort, »zerstörte eine Feuersbrunst den größten Teil der Stadt Chartres einschließlich der Kathedrale. Zunächst glaubte man, dass auch die heiligste Reliquie der Kathedrale, die Sancta Camisia - die Tunika, die Maria bei der Geburt Jesu getragen haben soll -, vernichtet worden war. Doch nach drei Tagen fand man sie wieder, Mönche hatten sie in der Krypta versteckt. Für die Menschen war das ein Wunder, ein Zeichen, dass die Kathedrale wieder aufgebaut werden sollte. Der heutige Bau wurde 1223 fertiggestellt und 1260 als Kathedrale Unserer Lieben Frau geweiht. Es handelt sich somit um die erste Kathedrale in Frankreich, die der Jungfrau Maria gewidmet wurde.«
Alice hörte nur mit halbem Ohr zu, bis sie zur Nordfassade des Gebäudes kamen. Die Fremdenführerin zeigte auf die unheimliche steinerne Prozession alttestamentarischer Könige und
Königinnen, die über dem Nordportal eingemeißelt worden waren.
Ein nervöses Kribbeln erfasste Alice.
»Hier sehen Sie die bedeutsamsten alttestamentarischen Darstellungen der Kathedrale«, sagte die Fremdenführerin und winkte die Leute näher heran. »Auf der Säule dort befindet sich eine Skulptur, die nach weit verbreiteter Ansicht zeigt, wie Menelik, der Sohn Salomos und der Königin von Saba, die Bundeslade aus Jerusalem fortschafft, obwohl die Geschichte von Menelik nach historischen Erkenntnissen erst im 15. Jahrhundert nach Europa gelangte. Und hier« - sie senkte den Arm ein wenig - »sehen Sie ein weiteres Rätsel. Wer von Ihnen gute Augen hat, kann vielleicht die lateinische Inschrift HIC AMIT 1 TUR ARCHA CEDERIS erkennen.« Sie ließ den Blick reihum wandern und lächelte selbstgefällig. »Die Lateiner unter Ihnen werden erkannt haben, dass die Inschrift keinen Sinn ergibt. In einigen Reiseführern steht, ARCHA CEDERIS bedeute >Du wirst durch die Lade wirken<, und sie übersetzen die gesamte Inschrift mit: >Hier nehmen die Dinge ihren Lauf: Du wirst durch die Lade wirken.< Wenn sich jedoch hinter AMITITUR eigentlich AMI- CITUR versteckt und CEDERIS eine Verfälschung von FOEDERIS ist, wie manche Kommentatoren glauben, dann könnte die Inschrift heißen: Hier ist die Bundeslade verhüllt.«
Sie sah ihre Zuhörer an. »Dieses Portal ist einer der Gründe, warum sich so viele Mythen und Legenden um die Kathedrale ranken. Ungewöhnlich ist, dass die Namen der Baumeister der Kathedrale nicht bekannt sind. Es wird vermutet, dass aus irgendeinem Grund keine Aufzeichnungen gemacht wurden und die Namen schlicht und ergreifend in Vergessenheit geraten sind. Das Fehlen solcher Informationen wird allerdings von Leuten mit einer, sagen wir, eher finsteren Phantasie anders gedeutet. Das
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