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Das Verlorene Labyrinth

Das Verlorene Labyrinth

Titel: Das Verlorene Labyrinth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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erkundete in der nächsten Stunde den malerischen historischen Stadtkern, wobei sie auch die Straße suchen wollte, wo Grace und Audric Baillard für das Foto posiert hatten.
    Aber die Straße war nicht in ihrem Stadtplan verzeichnet. Vielleicht lag sie außerhalb des Bereichs, den der Stadtplan abdeckte. Die meisten Straßen waren nach dem Handwerk oder Gewerbe benannt, das früher dort ausgeübt wurde: Uhrmacher, Gerber, Stallmeister und vor allem Buchhändler, die von Chartres' Bedeutung als wichtiges Zentrum für Papierherstellung und Buchbinderei im Frankreich des 12. und 13. Jahrhunderts zeugten. Aber keine Rue des Trois Degrés.
    Schließlich kam Alice wieder dort an, wo sie losgegangen war, vor dem Westportal der Kathedrale. Sie setzte sich auf die Stufen. Sogleich fiel ihr Blick auf die Straßenecke genau gegenüber. Sie sprang auf und lief hin, um das Schild an der Hauswand zu lesen: RUE DE L'ETROIT DEGRE, DITE AUSSI RUE DES TROIS DEGRES (DES TROIS MARCHES).
    Die Straße war umbenannt worden. Lächelnd machte Alice einen Schritt nach hinten, um besser sehen zu können, und stieß mit einem Mann zusammen, der in eine Zeitung vertieft war. »Pardon«, sagte sie und trat beiseite.
    »Nein, ich muss mich entschuldigen«, sagte er mit einem angenehmen amerikanischen Ostküstenakzent. »Es war meine Schuld. Ich hab gar nicht auf den Weg geachtet. Haben Sie sich wehgetan?«
    »Nichts passiert.«
    Zu ihrer Verwunderung starrte er sie aufmerksam an.
    »Ist was ... ?«
    »Alice, hab ich Recht?«
    »Ja?«, sagte sie argwöhnisch.
    »Alice, natürlich. Hi«, sagte er und fuhr sich mit den Fingern durch den struppigen braunen Haarschopf. »Das gibt's nicht!«
    »Tut mir Leid, aber ich ...«
    »William Franklin«, sagte er und streckte die Hand aus. »Will. Wir sind uns vierundneunzig oder fünfundneunzig in London begegnet. Auf einer Party. Du warst mit einem Typen zusammen, wie hi eß er noch ... Oliver. Stimmt's ? Ich war auf Besuch bei meinem Cousin.«
    Alice erinnerte sich vage an einen Abend in einer engen Wohnung, die mit Olivers Freunden von der Uni überfüllt war. Sie meinte, sich dunkel an einen jungen Amerikaner zu erinnern, charmant, gut aussehend, obwohl sie damals noch bis über beide Ohren verliebt gewesen war und für niemanden sonst Augen hatte.
    War er das?
    »Du hast ein gutes Gedächtnis«, sagte sie und schüttelte seine Hand. »Ist lange her.«
    »Du hast dich nicht sehr verändert«, sagte er lächelnd. »Und, wie geht's Oliver?«
    Alice verzog das Gesicht. »Wir sind nicht mehr zusammen.«
    »Das tut mir Leid«, sagte er. Es entstand eine kleine Pause, dann sagte er: »Wer ist das auf dem Foto?«
    Alice blickte nach unten. Sie hatte vergessen, dass sie es noch in der Hand hielt.
    »Meine Tante. Ich hab das in ihren Sachen gefunden, und da ich schon einmal hier bin, hab ich gedacht, ich schau mal, ob ich die Stelle finde, wo es aufgenommen wurde.« Sie grinste. »War schwieriger, als ich gedacht hatte.«
    Will sah ihr über die Schulter. »Und der Mann?«
    »Ein Bekannter. Ein Schriftsteller.«
    Wieder entstand eine Pause, als wollten sie beide das Gespräch in Gang halten, ohne recht zu wissen, was sie sagen sollten. Will blickte wieder auf das Bild.
    »Sie sieht nett aus.«
    »Nett? Ich finde, sie sieht ziemlich resolut aus, obwohl ich nicht weiß, ob das stimmt. Ich habe sie nie kennen gelernt.«
    »Im Ernst? Und wieso trägst du dann ein Foto von ihr mit dir herum?«
    Alice schob das Foto zurück in den Rucksack. »Das ist eine lange Geschichte.«
    »Ich liebe lange Geschichten«, grinste er. »Hör mal ...« Er zögerte. »Hättest du Lust auf einen Kaffee oder so? Falls du nichts Wichtigeres vorhast.«
    Alice war überrascht, aber sie hatte den gleichen Gedanken gehabt.
    »Ist das deine Masche, um irgendwelche Frauen aufzugabeln?«
    »Nicht irgendwelche«, sagte er. »Lässt du dich denn von irgendwelchen Männern aufgabeln?«
     
    Alice hatte das Gefühl, als würde sie von irgendwo hoch oben zuschauen, wie ein Mann und eine Frau, die so aussah wie sie, in eine altmodische patisserie gingen, in der Kuchen und Torten in langen Glasvitrinen ausgestellt waren.
    Was mache ich hier eigentlich?
    Bilder, Gerüche, Klänge. Die Kellner, die zwischen den Tischen umhereilten, das bittere Aroma des gerösteten Kaffees, das Zischen der Milch in der Maschine, das Klappern von Gabeln auf Tellern, alles war ungeheuer intensiv.
    Vor allem Will selbst, wie er lächelte, wie er den Kopf hielt, wie sich seine

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