Das Verlorene Labyrinth
Doch dann wurde er über eine Stufe gezerrt. Er spürte die frische Morgenluft auf dem Gesicht, und er begriff, dass er im Freien war, in einer kleinen Gasse, die parallel zur Rue du Cheval Blanc verlief. Er roch Kaffeeduft und Abfall, hörte das Geräusch eines Müllwagens nicht weit entfernt. Will erkannte, dass sie so vermutlich Taverniers Leiche aus dem Haus hinunter zum Fluss geschafft hatten.
Nackte Angst erfasste ihn, und er wollte sich wehren, merkte aber erst jetzt, dass er an Armen und Beinen gefesselt war. Will hörte, wie ein Kofferraum geöffnet wurde. Man hob ihn hoch und warf ihn hinein. Aber es war kein normaler Kofferraum. Will war jetzt in einer Art großer Kiste. Es roch nach Plastik. Als er sich unbeholfen auf die Seite rollte, stieß er mit dem Kopf gegen die Rückwand des Behälters, und er spürte, wie die Haut um die Wunde herum aufplatzte. Blut lief ihm über die Schläfe, brannte ihm in den Augen. Er konnte die Hände nicht bewegen und es wegwischen.
Jetzt erinnerte Will sich wieder, dass er vor der Tür zum Arbeitszimmer gestanden hatte. Dann der blendende Schmerz, als Fran^ois-Baptiste ihm mit der Waffe gegen den Kopf schlug. Marie-Ceciles herrische Stimme, die erneut fragte, was denn los sei.
Eine schwielige Hand packte seinen Arm. Will spürte, wie ihm der Hemdsärmel hochgeschoben wurde und eine spitze Nadel in seine Haut drang. Wie schon einmal zuvor. Dann das Geräusch von einrastenden Haken, und irgendeine Abdeckung, vielleicht eine Plane, wurde über sein Gefängnis gezogen.
Die Droge kroch in seine Adern, kalt, wohltuend, betäubte den Schmerz. Nebel. Will war benommen und nur halb bei Bewusstsein. Er merkte, dass der Wagen beschleunigte. Wenn sie um eine Kurve fuhren, kippte sein Kopf hin und her, und ihm wurde ein bisschen flau davon. Er dachte an Alice. Wie gern würde er sie sehen. Ihr sagen, dass er wirklich sein Möglichstes getan hatte. Dass er sie nicht im Stich gelassen hatte.
Er halluzinierte jetzt. Er konnte förmlich sehen, wie das wirbelnde, trübe grüne Wasser der Eure ihm in Mund und Nase und Lunge drang. Will versuchte, sich an Alice' Gesicht zu erinnern, an ihre ernsten braunen Augen, ihr Lächeln. Wenn er ihr Bild im Kopf behalten konnte, dann käme vielleicht alles wieder in Ordnung.
Doch die Angst vor dem Ertrinken, vor dem Tod an diesem fremden Ort, der ihm nichts bedeutete, war stärker. Will glitt in die Dunkelheit hinein.
In Carcassonne stand Paul Authié mit einer Tasse schwarzen Kaffee in der Hand auf seinem Balkon und blickte über die Aude hinweg. Er hatte O'Donnell als Köder benutzt, um an Fran cois- Baptiste de l'Oradore ranzukommen, aber instinktiv verwarf er die Idee, sie mit einem gefälschten Buch zur Übergabe zu schicken. Der Junge würde merken, dass es nicht das echte Buch war. Außerdem wollte er nicht, dass de l'Oradore ihren
Zustand sah, denn dann wüsste er sofort, dass er reingelegt worden war.
Authié stellte die Tasse auf den Tisch und zupfte die Manschetten seines frischen weißen Hemdes zurecht. Die einzige Möglichkeit war, dass er sich selbst mit Fran c ois-Baptiste traf - allein - und ihm erklärte, dass er O'Donnell und das Buch rechtzeitig für Marie-Ceciles Zeremonie an den Pic de Soularac bringen würde.
Es ärgerte ihn, dass der Ring noch immer nicht in seinem Besitz war, aber er war ziemlich sicher, dass Giraud ihn an Audric Bail lard weitergegeben hatte. Und Baillard würde schon von allein zum Pic de Soularac kommen. Authié hatte keinen Zweifel daran, dass der Alte irgendwo da draußen war und alles beobachtete.
Da war Alice Tanner schon ein größeres Problem. Die Scheibe, von der O'Donnell gesprochen hatte, ließ ihm keine Ruhe, zumal er nicht wusste, welche Bedeutung sie hatte. Und außerdem legte Tanner inzwischen ein erstaunliches Geschick an den Tag, sich ihnen zu entziehen. Sie war Domingo und Braissart auf dem Friedhof entwischt. Gestern hatten sie ihren Wagen für etliche Stunden verloren, und als sie das Signal heute Morgen endlich wieder empfingen, mussten sie feststellen, dass das Fahrzeug am Flughafen von Toulouse auf dem Parkplatz einer Autovermietung stand.
Authié schloss die Finger um sein Kruzifix. Um Mitternacht war alles vorbei. Dann waren die häretischen Texte, die Häretiker selbst, vernichtet.
In der Ferne rief die Glocke der Kathedrale die Gläubigen in die Freitagsmesse. Authié sah auf die Uhr. Er würde zur Beichte gehen. Wenn seine Sünden vergeben waren, würde er im Zustand
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