Das Verlorene Labyrinth
Leben eines chevalier war für jemandem aus seinem Stand ein unerreichbares Ziel, doch er hatte den Traum nie aufgegeben, unter seinem eigenen Wappen hinausreiten zu können. Jetzt bot sich ihm die Gelegenheit, sich zu beweisen.«
»Also ging er?«
Baillard nickte. »Pierre-Roger de Mirepoix war ein anspruchsvoller, aber gerechter Herr, und er hatte den Ruf, seine Knappen gut auszubilden. Es war ein hartes Handwerk, doch Sajhë hatte eine rasche Auffassungsgabe, und er strengte sich an. Er lernte, seine Lanze beim Anreiten gegen den Quin tan anzulegen. Er übte den Kampf mit Schwert, Keule, Morgenstern, Dolch, das Reiten mit geradem Rücken im Hochsattel.«
Eine Weile betrachtete Alice ihn, wie er über die Berge blickte, und dachte nicht zum ersten Mal, wie sehr die so fernen Menschen, in deren Gesellschaft Baillard einen Großteil seines Lebens verbracht hatte, für ihn Menschen aus Fleisch und Blut geworden waren.
»Wie erging es Alaïs in der Zwischenzeit?«
»Während Sajhë in Mirepoix war, weihte Harif Alaïs in die Riten und Rituale der Noublesso ein. Ihre Fähigkeiten als Heilerin und weise Frau sprachen sich herum. Es gab nur wenige Krankheiten des Geistes oder des Körpers, die sie nicht behandeln konnte. Harif lehrte sie vieles über die Sterne, über die Muster, die der Welt zugrunde liegen, und machte sie vertraut mit der Weisheit der alten Mystiker seines Landes. Ihr war klar, dass er sie auf ihre Aufgaben vorbereitete, so wie Sajhë auf seine. Deshalb hatte er ihn ja auch fortgeschickt.
Unterdessen dachte Sajhë nicht oft an das Dorf. Hin und wieder brachten Schäfer oder parfaits spärliche Neuigkeiten über Alaïs nach Mirepoix, aber sie besuchte ihn nie. Dank ihrer Schwester Oriane war auf Alaïs ' Kopf eine Prämie ausgesetzt. Harif schickte Geld, damit Sajhë sich Kettenhemd, Zelter, Rüstung und Schwert kaufen konnte. Schon mit erst fünfzehn Jahren wurde er zum Ritter geschlagen.« Er zögerte. »Kurz darauf zog er in den Krieg. Diejenigen, die sich in der Hoffnung auf Gnade mit den Franzosen eingelassen hatten, wechselten die Seite, so auch der Comte von Toulouse. Und als er diesmal Pedro II. von Aragon als seinen Lehnsherrn um Beistand bat, stellte sich Pedro seiner Verantwortung und zog im Januar 1213 nach Norden. Zusammen mit dem Comte von Foix verfügte er über eine Streitmacht, die für de Montforts dezimierte Truppen eine ernsthafte Bedrohung darstellte.
Im September 1213 standen sich die beiden Armeen, der Norden gegen den Süden, bei Muret gegenüber. Pedro war ein tapferer Heerführer und ein erfahrener Stratege, doch der Angriff scheiterte, und Pedro wurde in der Schlacht getötet. Der Süden hatte seinen Anführer verloren.«
Baillard stockte. »Unter den Streitern für die Unabhängigkeit war auch ein chevalier aus Carcassonne. Guilhem du Mas.« Wieder zögerte er einen Moment. »Er schlug sich tapfer. Er war allgemein beliebt. Die Männer mochten ihn.«
Ein seltsamer Tonfall hatte sich in seine Stimme geschlichen, Bewunderung vermischt mit etwas anderem, das Alice nicht benennen konnte. Bevor sie richtig darüber nachdenken konnte, sprach Baillard weiter. »Am 25. Juni 1218 wurde der Wolf getötet.« »Der Wolf?«
Er hob beide Hände. »Verzeihung. In den Liedern der damaligen Zeit, zum Beispiel im Canso de lo Crosada, wurde de Montfort als der Wolf bezeichnet. Er fiel bei der Belagerung von Tolosa; ein Stein traf ihn am Kopf, von einem Katapult, das eine Frau bedient haben soll.« Alice musste unwillkürlich lächeln. »Sie brachten seinen Leichnam zurück nach Carcassona und bestatteten ihn nach Brauch des Nordens. Herz, Leber und Magen wurden in Sant-Cerni, die übrigen sterblichen Überreste in Sant-Nasari beigesetzt, unter einer Grabplatte, die jetzt im südlichen Querschiff der Basilika an der Wand hängt.« Er sah Alice an. »Sie haben sie bestimmt gesehen, als Sie die Ciutat besichtigt haben?«
Alice wurde rot. »Ich ... ich wollte in die Basilika, aber plötzlich konnte ich sie aus irgendeinem Grund nicht betreten«, gestand sie. Baillard warf ihr einen kurzen Blick zu, sagte aber nichts weiter über die Steinplatte.
»Simon de Montforts Sohn, Amaury, wurde sein Nachfolger, aber er war nicht so ein guter Heerführer, wie sein Vater es gewesen war, und verlor sogleich Gebiete, die sein Vater erobert hatte. Im Jahre 1224 zog Amaury sich zurück. Die Familie de Montfort gab ihre Ansprüche auf das Trencavel-Gebiet auf. Sajhë konnte nach Hause zurückkehren.
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