Das Verlorene Labyrinth
ihrem Kopf im Spiegel umrahmt wurde, als ob er für ein Porträt posierte. Seine Stimme klang gleichgültig. Seine Augen verrieten ihn.
»Nein«, erwiderte sie und sah, dass sich sein Gesicht ein wenig entspannte. »Bloß interessiert.«
Er drückte ihre Schultern, dann nahm er die Hände weg.
»Er lebt, um deine Frage zu beantworten. Hat ein bisschen Ärger gemacht, als sie ihn rausgeholt haben. Sie mussten ihn etwas beruhigen.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Hoffentlich nicht zu sehr«, sagte sie. »Halb ohnmächtig nutzt er mir nichts.«
»Mir?«, fragte Fran c ois-Baptiste scharf.
Marie-Cecile biss sich a uf die Zunge. Sie brauchte Franc ois- Baptiste in gefügiger Stimmung. »Uns«, sagte sie.
Kapitel 69
Los Seres
A lice döste im Schatten unter den Bäumen, als Audric einige Stunden später wieder auftauchte.
»Ich habe uns etwas zu essen gemacht«, sagte er.
Nachdem er geschlafen hatte, sah er besser aus. Seine Haut hatte das wächserne, gespannte Aussehen verloren, und die bernsteinfarbenen Augen leuchteten.
Alice nahm ihre Sachen und folgte ihm ins Haus. Der Tisch war gedeckt mit Ziegenkäse, Oliven, Tomaten, Pfirsichen und einem Krug Wein.
»Bitte. Greifen Sie zu.«
Sobald sie Platz genommen hatten, bestürmte Alice ihn mit den Fragen, die ihr die ganze Zeit durch den Kopf gegangen waren. Ihr fiel auf, dass er wenig aß, beim Wein aber nicht ganz so zurückhaltend war.
»Hat Alaïs versucht, die beiden Bücher zurückzubekommen, die ihre Schwester und ihr Ehemann gestohlen hatten?«
»Schon als sich der allererste Schatten des drohenden Krieges über das Pays d'Oc gelegt hatte, war es Harifs Absicht gewesen, die Labyrinth-Trilogie zu vereinen«, sagte er. »Wie gesagt, dank ihrer Schwester Oriane war auf Alaïs ' Kopf eine Belohung ausgesetzt. Deshalb war es für sie gefährlich zu reisen. Die seltenen Male, die sie das Dorf verließ, ging sie verkleidet. Eine Reise in den Norden wäre Wahnsinn gewesen. Sajhë schmiedete mehrmals Pläne, nach Chartres zu gehen. Aber sie scheiterten alle.« »Wollte er das für Alaïs tun?«
»Zum Teil, aber auch für seine Großmutter Esclarmonde. Durch sie empfand er Verantwortung für die Noublesso de los Seres, so wie Alaïs durch ihren Vater.«
»Was geschah mit Esclarmonde?«
»Viele Bons Homes gingen nach Norditalien. Esclarmonde war zu geschwächt für eine so weite Reise. Stattdessen brachten Gaston und sein Bruder sie in eine kleine Gemeinde in Navarra, wo sie bis zu ihrem Tod wenige Jahre später blieb. Sajhë besuchte sie dort, sooft er konnte.« Er hielt inné. »Alaïs war unendlich traurig darüber, dass sie einander nie wiedersahen.«
»Und was war mit Oriane?«, fragte Alice nach einer Weile. »Hörte Alaïs auch von ihr?«
»Nur sehr wenig. Interessanter war das Labyrinth, das in der Kathedrale von Chartres gebaut wurde. Keiner wusste, wer es in Auftrag gegeben hatte oder was es bedeutete. Das war mit ein Grund dafür, warum d'Evreux und Oriane sich dort niederließen und nicht auf seine Besitzungen weiter nördlich zurückkehrten.« »Und die Bücher selbst waren in Chartres gemacht worden.« »In Wahrheit wurde das Labyrinth gebaut, um die Aufmerksamkeit von der Labyrinth-Höhle im Süden abzulenken.«
»Ich habe es mir gestern angesehen«, sagte Alice.
War das wirklich erst gestern?
»Ich habe nichts empfunden. Ich meine, es war sehr schön, sehr beeindruckend, aber sonst nichts.«
Audric nickte. »Oriane bekam ihren Willen. Guy d'Evreux nahm sie als seine Frau mit in den Norden. Dafür gab sie ihm das Buch der Arzneien und das Buch der Zahlen und das Versprechen, ihm auch das Buch der Wörter zu beschaffen.«
»Als seine Frau?« Alice zog die Stirn kraus. »Aber was war denn mit ...«
»Jehan Congost? Er war ein guter Mann. Pedantisch, eifersüchtig, humorlos, mag sein, aber ein treuer Diener. François ermordete ihn auf Orianes Befehl.« Er schwieg kurz. »François hatte also durchaus den Tod verdient. Es war ein schlimmes Ende, aber er hatte kein besseres verdient.«
Alice schüttelte den Kopf. »Ich wollte nach Guilhem fragen«, sagte sie.
»Der blieb im Midi.«
»Aber hatte er sich denn keine Hoffnungen auf Oriane gemacht?«
»Er kämpfte unermüdlich dafür, die Kreuzfahrer aus dem Land zu vertreiben. Im Laufe der Jahre sammelte er in den Bergen eine große Gefolgschaft um sich. Zuerst stellte er sein Schwert in den Dienst von Pierre-Roger de Mirepoix. Später dann, als Vicomte Trencavels Sohn das Land
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