Das Verlorene Labyrinth
dauerten nicht lange. Die Kapitulationsurkunde wurde am folgenden Tag von Pierre Amiel, dem Erzbischof von Narbonne, unterzeichnet.
Die Bedingungen waren großzügig. Beispiellos, wie manche sagten. Die Festung würde in den Besitz der katholischen Kirche und der französischen Krone übergehen, aber den Bewohnern drohte für ihre begangenen Verbrechen keine Strafe. Selbst die Mörder der Inquisitoren in Avignonet sollten verschont bleiben. Die Soldaten würden mit nur milden Bußauflagen auf freien Fuß gesetzt, sobald ihre Verbrechen im Inquisitionsregister verzeichnet worden waren. Alle, die dem häretischen Glauben abschworen, sollten ungehindert gehen dürfen. Als einzige Strafe sollten sie ein gelbes Kreuz auf der Kleidung tragen müssen.« »Und wer nicht dazu bereit war?«, fragte Alice.
»Wer sich weigerte, sollte als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden.«
Baillard trank wieder einen Schluck Wein.
»Es war üblich, die Vereinbarungen am Ende einer Belagerung durch den Austausch von Geiseln zu besiegeln. In diesem Fall waren das der Bruder von Bischof Bertrand, Raymond, der alte chevalier Arnald-Roger de Mirepoix und Raymond de Pereilles kleiner Sohn.« Baillard hielt kurz inne. »Keineswegs üblich«, fuhr er bedächtig fort, »war dagegen die Gewährung einer zweiwöchigen Gnadenfrist. Die Führung der Katharer bat darum, noch zwei Wochen innerhalb der Festung von Montsegur bleiben zu dürfen, ehe sie den Berg herabkamen. Die Bitte wurde gewährt.«
Alice' Herzschlag beschleunigte sich. »Warum?«
Audric lächelte. »Historiker und Theologen debattieren seit Hunderten von Jahren darüber, warum die Katharer um diese Aufschiebung der Hinrichtung baten. Was musste denn noch getan werden, was nicht bereits geschehen war? Der Schatz war in Sicherheit. Warum wollten die Katharer unbedingt noch länger in der zerstörten und kalten Bergfestung ausharren, nachdem sie schon so viel durchlitten hatten?«
»Und warum?«
»Weil Alaïs bei ihnen war«, sagte er. »Sie brauchte Zeit. Oriane und ihre Männer warteten am Fuß des Berges auf sie. Auch Harif befand sich innerhalb der Zitadelle, außerdem Sajhë und ihre Tochter. Das Risiko war zu groß. Wenn sie in Gefangenschaft gerieten, wären die Opfer, die Simeon und ihr Vater und Esclarmonde gebracht hatten, um das Geheimnis zu hüten, umsonst gewesen.«
Endlich fand auch das letzte Puzzleteilchen seinen Platz, und Alice sah das gesamte Bild, hell und klar und deutlich, obwohl sie ihren eigenen Augen kaum glauben konnte.
Sie blickte aus dem Fenster auf die unveränderliche, beständige Landschaft. Sie sah noch fast genauso aus wie damals, als Alaïs hier gelebt hatte. Dieselbe Sonne, derselbe Regen, derselbe Himmel.
»Sagen Sie mir die Wahrheit über den Gral«, sagte sie ruhig.
Kapitel 71
Montsegur
Marc 1244
Alaïs stand auf den Mauern der Zitadelle von Montsegur, eine schlanke, einsame Gestalt in ihrem dicken Wintermantel. Mit den Jahren war sie schön geworden. Sie war schmächtig, aber ihr Gesicht, ihr Hals, ihre Haltung waren voller Anmut. Sie blickte nach unten auf ihre Hände. Im frühen Morgenlicht sahen sie blau aus, fast durchsichtig.
Die Hände einer alten Frau.
Alaïs lächelte. Nicht alt. Noch immer jünger als ihr Vater, als er starb.
Das Licht war weich, als die aufgehende Sonne versuchte, der Welt ihre Form zurückzugeben und die Silhouetten der Nacht zu verscheuchen.
Alaïs blickte über die dunklen Nadelwälder auf der Ostflanke des Berges hinweg auf die zerklüfteten, schneebedeckten Gipfel der Pyrenäen, die sich bis zum blassen Horizont hin hoben und senkten. Frühmorgendliche Wolken zogen über die schroffen Hänge des Pic de Sant-Bartelemy. Und dahinter konnte sie schon beinahe den Pic de Soularac erkennen.
Sie dachte an ihr schlichtes und gastfreundliches Haus, das in die Falten des Berges eingebettet lag. Sie erinnerte sich an den Rauch, der sich an einem kalten Morgen wie jetzt aus dem Schornstein kringelte. In den Bergen kam der Frühling spät, und es war ein harter Winter gewesen, aber jetzt würde es nicht mehr lange dauern. Sie erkannte seine Verheißung schon in dem rosa Hauch des Himmels in der Dämmerung. In Los Seres würden die Bäume bald anfangen zu knospen. Und im April würden die Bergwiesen wieder übersät sein mit zarten blauen, weißen und gelben Blüten.
Weit unten konnte Alaïs die übrig gebliebenen Häuser des Dorfes von Montsegur ausmachen, die wenigen Hütten und Katen, die nach
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