Das Verlorene Labyrinth
»Ihr wart nicht in der Zitadelle.«
»Das stimmt«, sagte Oriane, bemüht, geduldig zu klingen, »aber ich bin in Carcassona geboren, genau wie deine Mutter. Wir sind gemeinsam im Chateau Comtal aufgewachsen. Ich kannte sogar deinen Großvater, Intendant Pelletier. Alaïs hat doch bestimmt oft von ihm erzählt.«
»Ich bin nach ihm benannt worden«, kam prompt die Antwort. Oriane unterdrückte ein Lächeln. »Schön, Bertrande. Ich bin gekommen, um dich von hier wegzubringen.«
Das Mädchen runzelte die Stirn. »Aber Sajhë hat gesagt, ich soll hier warten, bis er mich holen kommt«, sagte sie schon etwas weniger argwöhnisch. »Er hat gesagt, ich soll mit niemandem mitgehen.«
»Das hat Sajhë gesagt?«, fragte Oriane lächelnd. »Nun, zu mir hat er gesagt, dass du schon sehr gut auf dich selbst aufpassen kannst und dass ich dir etwas zeigen soll, um dein Vertrauen zu gewinnen.«
Oriane zeigte ihr den Ring, den sie von der toten Hand ihres Vaters gestohlen hatte. Wie erwartet, erkannte Bertrande ihn und griff danach.
»Und den hat Sajhë Euch gegeben?«
»Ja. Schau ihn dir gut an.«
Bertrande drehte den Ring um und untersuchte ihn gründlich. Dann stand sie auf.
»Wo ist er?«
»Das weiß ich nicht«, sagte sie stirnrunzelnd. »Aber ...«
»Ja?« Bertrande schaute zu ihr hoch.
»Er hat gesagt, ich soll dich nach Hause bringen. Ist das weit?«, fragte Oriane möglichst beiläufig.
»Ein Tagesritt, um diese Jahreszeit vielleicht ein bisschen länger.«
»Und hat das Dorf auch einen Namen?«, fragte sie leichthin. »Los Seres«, antwortete Bertrande, »aber Sajhë hat gesagt, ich soll das den Inquisitoren nicht verraten.«
Die Noublesso de los Seres. Nicht bloß der Name der Gralshüter, sondern auch der Ort, wo der Gral zu finden war. Oriane biss sich auf die Zunge, um nicht laut aufzulachen.
»Zuerst entfernen wir das einmal«, sagte sie, beugte sich vor und riss Bertrande das gelbe Kreuz vom Rücken. »Sonst denkt noch jemand, dass wir weggelaufen sind. So, hast du irgendwelche Sachen, die du mitnehmen willst?«
Falls das Mädchen das Buch bei sich hatte, wäre die Suche gleich hier zu Ende.
Bertrande schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Also gut. Dann sei jetzt schön leise. Wir wollen ja nicht auffallen.«
Das Mädchen war zwar noch immer auf der Hut, aber während sie durch das schlafende Lager gingen, erzählte Oriane von Alaïs und dem Château Comtal. Sie war liebenswert, überzeugend und aufmerksam. Und nach und nach konnte sie das Mädchen für sich gewinnen.
Am Tor drückte Oriane dem Wachmann erneut eine Münze in die Hand und führte Bertrande dann zu der Stelle am Rande des Lagers, wo ihr Sohn, Louis d'Evreux, bereits mit sechs berittenen Soldaten und einem geschlossenen Karren wartete. »Kommen die alle mit?«, fragte Bertrande, plötzlich wieder misstrauisch.
Oriane lächelte, als sie das Kind in die caleche hob. »Die sollen uns vor Wegelagerern schützen. Sajhë würde es mir nie verzeihen, wenn dir in meiner Obhut etwas zustieße.«
Sobald Bertrande auf dem Karren verstaut war, wandte Oriane sich an ihren Sohn.
»Was ist mit mir?«, fragte er. »Ich möchte Euch begleiten.«
»Du musst hier bleiben«, sagte sie ungeduldig, weil sie möglichst schnell aufbrechen wollte. »Du bist schließlich, wenn ich dich daran erinnern darf, Angehöriger der Armee. Du kannst nicht einfach verschwinden. Es ist leichter und einfacher für uns alle, wenn ich allein reise.«
»Aber ...«
»Tu, was ich dir sage«, sagte sie leise, damit Bertrande sie nicht hören konnte. »Kümmere dich hier um unsere Interessen. Erledige das mit dem Vater des Mädchens, wie wir es besprochen haben. Den Rest überlass mir.«
Guilhem hatte nur noch den einen Gedanken, Oriane zu finden. Er war nach Montsegur gekommen, um Alaïs zu helfen und Oriane daran zu hindern, ihr etwas anzutun. Fast dreißig Jahre lang hatte er aus der Ferne über sie gewacht.
Jetzt war Alaïs tot, und er hatte nichts mehr zu verlieren. Sein Wunsch nach Rache war mit den Jahren immer stärker geworden. Er hätte Oriane töten sollen, als er die Chance gehabt hatte. Jetzt würde er die Gelegenheit nicht noch einmal verpassen. Guilhem schlich sich durch das Lager der Kreuzfahrer, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, bis er das Grün und Silber von Orianes Zelt erblickte.
Drinnen waren Stimmen zu hören. Französische. Ein junger Mann erteilte Befehle. Guilhem fiel der junge Bursche wieder ein, der neben Oriane auf der Tribüne
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