Das Verlorene Labyrinth
rief er.
»Wenn Ihr Eure Tochter lebend Wiedersehen wollt«, sagte Guil- hem ruhig, »dann rate ich Euch, dass Ihr Euren Groll gegen mich vergesst, welchen Grund er auch immer haben mag.«
Guilhem streckte Sajhë eine Hand hin.
»Könnt Ihr Euch denken, wo Oriane sie hinbringen will?«
Sajhë starrte den Mann an. Er hatte ihn sein Leben lang gehasst, doch Alaïs und ihrer Tochter zuliebe ergriff er die dargebotene Hand.
»Sie hat einen Namen«, sagte er. »Sie heißt Bertrande.«
Kapitel 77
Pic de Soularac
Freitag, 8. Juli 2005
A udric und Alice stiegen schweigend den Berg hinauf.
Es war so viel gesagt worden, dass nun jedes weitere Wort überflüssig schien. Audric atmete schwer, aber er hielt die Augen auf den Boden vor seinen Füßen gerichtet und strauchelte nicht ein einziges Mal.
»Es kann nicht mehr weit sein«, sagte sie ebenso zu sich selbst wie zu ihm.
»Nein.«
Fünf Minuten später erkannte Alice, dass sie die Ausgrabungsstätte von der dem Parkplatz gegenüberliegenden Seite aus erreicht hatten. Die Zelte waren alle verschwunden, aber an den braunen, ausgetrockneten Flecken auf dem Boden war noch gut zu sehen, wo sie gestanden hatten. Außerdem lag hier und da noch ein wenig Müll herum. Alice bemerkte eine Kelle und einen Zeltpflock. Sie hob beides auf und steckte es in die Tasche. Sie hielten sich jetzt links und kletterten den Hang hinauf, bis sie den Felsen erreichten, den Alice zum Kippen gebracht hatte. Er lag noch immer an derselben Stelle unterhalb des Eingangs zur Höhle. In dem gespenstischen weißen Mondlicht sah er aus wie der Kopf einer gestürzten Götzenstatue.
War das wirklich erst am Montag gewesen?
Baillard blieb stehen und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Felsen, um zu verschnaufen.
»Jetzt sind's nur noch ein paar Schritte«, sagte sie, um ihn aufzumuntern. »Es tut mir Leid. Ich hätte Sie vorwarnen sollen, dass es sehr steil ist.«
Audric lächelte. »Ich erinnere mich«, sagte er und nahm ihre Hand. Seine Haut fühlte sich dünn wie Papier an. »Ich gehe als Erster in die Höhle, und Sie warten, bis ich Ihnen Bescheid gebe, dass die Luft rein ist. Bis dahin halten Sie sich versteckt. Versprochen?«
»Ich finde es noch immer keine gute Idee, dass Sie allein reingehen«, sagte sie störrisch. »Selbst wenn Sie Recht haben und sie erst später kommen, könnten Sie in der Falle sitzen. Lassen Sie mich mitkommen, Audric. Ich kann Ihnen doch bei der Suche nach dem Buch helfen. Zu zweit geht es schneller, und wir sind im Handumdrehen wieder draußen. Dann verstecken wir uns beide hier irgendwo und beobachten, was passiert.«
»Verzeihen Sie, aber es ist wirklich besser, wenn wir uns trennen.«
»Ich verstehe beim besten Willen nicht, wieso, Audric. Keiner weiß, dass wir hier sind. Uns kann also eigentlich nichts passieren«, sagte sie, obwohl sie selbst nicht dran glaubte.
»Sie sind sehr tapfer, Madomaisela«, sagte er leise. »Genau wie sie es war. Alaïs hat immer zuerst an andere gedacht. Für die Menschen, die sie liebte, hat sie viel geopfert.«
»Hier opfert keiner irgendwas«, sagte Alice heftig. Die Furcht machte sie nervös. »Und außerdem verstehe ich noch immer nicht, warum wir nicht früher hergekommen sind. Dann wäre es noch hell gewesen, und wir hätten keine Angst haben müssen, überrascht zu werden.«
Baillard ging nicht darauf ein.
»Haben Sie Inspektor Noubel angerufen?«, fragte er stattdessen. Es bringt nichts zu streiten, jetzt nicht mehr.
»Ja«, sagte sie mit einem tiefen Seufzer. »Ich habe genau das gesagt, was Sie wollten.«
»Ben«, sagte er milde. »Ich begreife ja, dass Sie mich für unklug halten, Madomaisela, aber Sie werden es verstehen. Alles muss zur richtigen Zeit in der richtigen Reihenfolge geschehen. Sonst wird es keine Wahrheit geben.«
»Wahrheit?«, wiederholte sie. »Sie haben mir doch alles erzählt, Audric. Alles. Mir geht es nur noch darum, Shelagh - und Will - mit heiler Haut hier rauszuholen.«
»Alles?«, fragte er leise. »Ist das denn überhaupt möglich?« Audric wandte den Kopf und blickte zum Eingang hinauf, einer kleinen schwarzen Öffnung im Felshang. »Eine Wahrheit kann einer anderen widersprechen«, murmelte er. »Heute ist nicht damals.« Er nahm ihren Arm. »Kommen Sie, bringen wir die letzte Etappe unserer Reise hinter uns«, sagte er.
Alice blickte ihn fragend an und wunderte sich über die Stimmung, die ihn erfasst hatte. Er war ruhig, nachdenklich. Eine Art passive Akzeptanz
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