Das Verlorene Labyrinth
Reisegruppe kam nur langsam voran.
Oriane bedauerte bereits, dass sie die caleche genommen hatte. Zu Pferd wären sie schneller gewesen. Die Holzräder rumpelten über Steine und den hart gefrorenen Boden.
Sie mieden die Hauptwege, die aus dem Tal herausführten und noch immer von Wachen gesichert wurden, und hielten sich in den ersten Stunden Richtung Süden. Dann, als die winterliche Dämmerung endgültig von der Nacht verdrängt wurde, bogen sie nach Südosten.
Bertrande schlief. Sie hatte sich den Mantel über den Kopf gezogen, um vor dem schneidenden Wind geschützt zu sein, der unter der Plane hindurchpfiff, die über den Karren gespannt war. Ihr endloses Geplapper war Oriane auf die Nerven gegangen. Sie hatte sie mit Fragen nach Carcassonne in der guten alten Zeit, vor dem Krieg, bestürmt.
Oriane gab ihr Gebäck und Zucker zu essen und flößte ihr gewürzten Wein ein, der mit einem so starken Schlafmittel versetzt war, dass es einen erwachsenen Mann für mehrere Tage außer Gefecht gesetzt hätte. Endlich hörte das Kind auf zu reden und fiel in einen tiefen Schlummer.
»Aufwachen!«
Sajhë hörte eine Stimme. Von einem Mann. Ganz in der Nähe. Er versuchte sich zu bewegen. Schmerzen schossen ihm durch den ganzen Körper. Hinter den Augen zuckten bläuliche Blitze. »Aufwachen!« Diesmal war die Stimme eindringlicher.
Sajhë fuhr zusammen, als etwas Kaltes gegen sein malträtiertes Gesicht gedrückt wurde, eine Wohltat auf der Haut. Langsam kehrte die Erinnerung zurück, an die fürchterlichen Schläge auf seinen Kopf, seinen ganzen Körper.
War er tot?
Dann fiel es ihm wieder ein. Irgendwer weiter unten am Hang hatte den Soldaten Einhalt geboten, und seine Angreifer hatten sogleich von ihm abgelassen. Irgendwer, ein Kommandeur, hatte Befehle auf Französisch gebrüllt. Dann hatten sie ihn nach unten geschleift.
Vielleicht war er doch nicht tot.
Wieder versuchte Sajhë sich zu bewegen. Er spürte etwas Hartes im Rücken. Dann merkte er, dass seine Schultern straff nach hinten gezogen waren. Er wollte die Augen öffnen, aber eines war gänzlich zugeschwollen, und auch das andere bekam er kaum auf. Dafür aber waren seine anderen Sinne jetzt hellwach. Er nahm die Bewegung von Pferden in der Nähe wahr, das Stampfen der Hufe auf dem Boden. Er konnte das Geräusch des Windes hören, die Schreie der Nachtschwalben und einer einsamen Eule.
Das waren Klänge, die er einordnen konnte.
»Könnt Ihr die Beine bewegen?«, fragte der Mann.
Erstaunt stellte Sajhë fest, dass es ging, obwohl es schrecklich wehtat. Einer der Soldaten hatte ihm mit voller Wucht auf den Knöchel getreten, als er schon auf dem Boden lag.
»Meint Ihr, Ihr könnt reiten?« .
Sajhë sah, wie der Mann hinter ihn trat und die Stricke durchtrennte, mit denen seine Arme an den Pfahl gebunden waren, und er merkte, dass er ihm irgendwie bekannt vorkam. Etwas an der Stimme, an der Haltung des Kopfes war ihm vertraut.
Sajhë kam taumelnd auf die Beine.
»Wem verdanke ich diese Freundlichkeit?«, fragte er, während er sich die Handgelenke rieb. Und plötzlich wusste er es. Sajhë sah sich wieder als elfjährigen Jungen, wie er auf der Suche nach Alaïs auf den Mauern des Chateau Comtal an den Zinnen entlangkletterte. Wie er am Fenster lauschte und Lachen hörte, das der Wind nach draußen trug. Eine Männerstimme, die sprach und neckte.
»Guilhem du Mas«, sagte er langsam.
Guilhem hielt inne und sah Sajhë verblüfft an. »Kennen wir uns, mein Freund?«
»Ihr werdet Euch nicht erinnern«, sagte Sajhë und konnte es kaum ertragen, ihm ins Gesicht zu sehen. »Sagt mir, amic«, er betonte das Wort. »Was wollt Ihr von mir?«
»Ich bin gekommen, um ...« Guilhem war verwundert über den feindseligen Unterton. »Ihr seid doch Sajhë de Servian?«
»Was geht Euch das an?«
»Es geht um Alaïs , die wir beide ...« Guilhem verstummte und rang um Fassung. »Ihre Schwester Oriane ist hergekommen, mit einem ihrer Söhne. Er gehört zur Armee der Kreuzfahrer. Oriane ist hinter dem Buch her.«
Sajhë starrte ihn an. »Was für ein Buch?«, fragte er streitlustig. Guilhem ließ sich nicht beirren. »Oriane hat erfahren, dass Ihr eine Tochter habt. Sie hat sie mitgenommen. Ich weiß nicht, wo sie mit ihr hinwill, aber sie hat das Lager in der Dämmerung verlassen. Das wollte ich Euch sagen und meine Hilfe anbieten.« Er erhob sich. »Aber wenn Ihr sie nicht wollt ...«
Sajhë spürte, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht wich. »Wartet!«,
Weitere Kostenlose Bücher