Das Verlorene Labyrinth
bringen, trottete er hinter der hässlichsten Gans her und schlug mit den Armen, als wären sie Flügel.
»Was soll das?«, rief der Junge. »Hau ab.«
Die Mädchen lachten. Sajhë stieß einen lauten Gänseschrei aus, und die alte graue Gans fuhr herum, reckte den Hals und fauchte ihm bösartig ins Gesicht. »Selber schuld, pec«, sagte der Junge. »Du blöder Idiot.«
Sajhë wich vor dem schnappenden orangegelben Schnabel zurück. »Du solltest besser auf sie aufpassen.«
»Bloß Hosenscheißer haben Angst vor Gänsen«, höhnte der Junge und baute sich vor Sajhë auf. »Hat der Hosenscheißer etwa Angst vor harmlosen kleinen Gänschen?«
»Ich hab keine Angst«, sagte Sajhë großspurig und zeigte auf die Mädchen, die sich jetzt hinter den Beinen ihrer Mutter versteckten. »Aber die beiden da. Also pass gefälligst auf.«
»Und was geht dich das an, e?«
»Ich sag ja bloß, du solltest besser aufpassen.«
Der Junge kam noch näher, fuchtelte mit seinem Stock vor Sajhë s Gesicht.
»Und du meinst, ich lass mir von so einem Bürschchen wie dir was sagen? Hä?«
Der Junge war einen Kopf größer als Sajhë . Seine Haut bestand praktisch nur noch aus lila Blutergüssen und roten Flecken. Sajhë machte einen Schritt zurück und hob die Hände.
»Ich hab dich was gefragt«, sagte der Junge kampflustig.
Es hätte nicht viel gefehlt, und es wären die Fäuste geflogen, wenn nicht ein alter Trunkenbold aufgewacht wäre, der zusammengesunken an der Mauer saß. Er brüllte sie an, sie sollten sich verziehen und ihn in Ruhe lassen. Sajhë nutzte die günstige Ablenkung, um das Weite zu suchen.
Die Sonne erhob sich gerade über die Dächer der höheren Gebäude, durchflutete Teile der Straße mit hellen Lichtstreifen und funkelte auf dem Hufeisen, das über der Tür der Schmiede hing. Sajhë blieb stehen und schaute in die Werkstatt hinein, spürte noch hier draußen auf der Straße die Hitze des Feuers im Gesicht.
Vor der Schmiede warteten eine Gruppe Männer sowie etliche écuyers, die die Helme, Schilde und Kettenhemden ihrer Herren ausbessern lassen wollten. Er vermutete, dass der Schmied im Château mit der Arbeit nicht mehr nachkam.
Sajhë hatte nicht das Blut oder den Stammbaum, um sich Hoffnungen auf eine Stellung als Knappe machen zu können, aber er malte sich trotzdem gern aus, wie es wäre, ein chevalier mit eigenem Wappen zu sein. Er lächelte einigen der Jungen in seinem Alter zu, doch sie starrten durch ihn hindurch, wie sie es immer taten und immer tun würden.
Sajhë wandte sich ab und ging weiter.
Die meisten Markthändler kamen regelmäßig und hatten ihre Stände an ihrem Stammplatz aufgebaut. Der Geruch von heißem Fett drang Sajhë in die Nase, kaum dass er den Platz betreten hatte. Er lungerte ein bisschen vor dem Stand herum, wo ein Mann Pfannkuchen briet und sie auf einem heißen Backblech wendete. Der Duft von dicker Bohnensuppe und warmem mi tadenc -Brot aus Gerste und Weizen ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Er kam an Ständen vorbei, die Schnallen und Töpfe, Wollstoffe, Felle und Leder feilboten, sowohl Waren aus der Gegend als auch exotischere Gürtel und Geldbeutel aus Córdoba und noch weiter weg, aber er blieb nicht stehen. An einem Stand sah er sich kurz die Messer und Scheren zum Schafscheren an, ehe er weiter zu der Ecke des Platzes ging, wo die meisten lebenden Tiere eingepfercht waren. Es gab immer jede Menge Hühner und Kapaune in Holzkäfigen, manchmal auch Lerchen und Zaunkönige, die zwitscherten und trällerten. Am schönsten fand er die Kaninchen, die sich in einem einzigen Knäuel aus braunem, schwarzem und weißem Fell aneinander kuschelten.
Sajhë ging an den Händlern vorbei, die Getreide und Salz, helles Fleisch, Fassbier und Wein verkauften, bis sein Blick auf einen Stand für Kräuter und exotische Gewürze fiel. Vor dem Tisch stand ein Händler. Einen so groß gewachsenen, so dunklen Mann hatte Sajhë in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen.
Er trug lange, schimmernde blaue Gewänder, einen glänzenden Seidenturban und spitze, rot-goldene Schuhe. Seine Haut war sogar noch dunkler als die der Zigeuner, die von Navarre und Aragon über die Berge hierher kamen. Er musste ein Sarazene sein, vermutete Sajhë , obwohl er noch nie einen gesehen hatte. Der Sarazene hatte seine Ware in einem farbenprächtigen Kreis ausgelegt, grün, gelb, orange, braun, rot und ocker in allen Schattierungen. Ganz vorn waren Rosmarin und Petersilie, Knoblauch,
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