Das Verlorene Labyrinth
das Holz.
»Paire«, sagte sie flehend. »Sagt mir, was mit Euch ist. Warum müssen wir zum Fluss? Das kann doch für Euch nicht so wichtig sein, oder? Schickt doch François. Ich kann ihm beschreiben, wo die Stelle ist.«
»Du verstehst das nicht.«
»Dann erklärt es mir, damit ich es verstehen kann. Ihr könnt mir vertrauen.«
»Ich muss mir den Toten selbst ansehen. Feststellen, ob ...« »Was müsst Ihr feststellen?«, fragte Alaïs rasch nach.
»Nein, nein«, sagte er und schüttelte seinen grauhaarigen Kopf. »Das geht dich nichts an ...« Pelletiers Stimme erstarb.
»Aber ... «
Er hob eine Hand, hatte seine Gefühle wieder im Griff. »Genug jetzt, Alaïs. Tu einfach, was ich dir sage. Ich wünschte, ich könnte dir das ersparen, aber ich kann nicht. Ich habe keine andere Wahl.« Er hielt ihr den Becher hin. »Trink. Das wird dich stärken, dir Mut geben.«
»Ich fürchte mich nicht«, widersprach sie, gekränkt, weil er ihren Widerwillen für Feigheit hielt. »Ich habe keine Angst davor, den Toten noch einmal zu sehen. Ich war vorhin so mitgenommen, weil ich mich erschrocken hatte.« Sie zögerte. »Aber ich flehe Euch an, Messire, sagt mir, warum ...«
Pelletier fuhr herum. »Genug jetzt, es reicht!«, schrie er sie an. Alaïs machte einen Schritt zurück, als hätte er sie geohrfeigt. »Verzeih mir«, sagte er sofort. »Ich kenne mich selbst nicht mehr.« Er hob den Arm und berührte ihre Wange. »Niemand könnte sich eine treuere, standhaftere Tochter wünschen.« »Warum vertraut Ihr Euch mir dann nicht an?«
Er zögerte, und Alaïs glaubte schon, sie hätte ihn überzeugt. Doch dann senkte sich wieder dieser verschlossene Ausdruck über sein Gesicht.
»Du musst ihn mir nur zeigen«, sagte er tonlos. »Alles Übrige liegt bei mir.«
Die Glocken von Sant-Nasari schlugen die Terz, als sie zum Westtor des Chateau Comtal hinausritten.
Pelletier ritt voran, gefolgt von seiner Tochter und François. Alaïs war elend zu Mute, einerseits hatte sie Schuldgefühle, weil ihr Verhalten diese sonderbare Veränderung bei ihrem Vater ausgelöst hatte, andererseits war sie wütend, weil er ihr nichts verraten hatte.
Sie folgten dem schmalen, ausgetrockneten Trampelpfad, der unterhalb der Mauern der Cité im Zickzack mit zahllosen Spitzkehren den Berg hinabführte. Sobald sie unten angekommen waren, fielen sie in leichten Galopp.
Sie ritten stromaufwärts am Fluss entlang. Eine erbarmungslose Sonne brannte ihnen auf den Rücken, als sie ins Marschland kamen. Schwärme von Mücken und schwarzen Sumpffliegen schwebten über den Wasserläufen und trüben Tümpeln. Die Pferde stampften immer wieder auf und schlugen wild mit dem Schwanz, vergebens bemüht, sich das Sommerfell nicht von unzähligen Blutsaugern durchstechen zu lassen.
Alaïs sah eine Gruppe Frauen im schattigen seichten Wasser am anderen Ufer der Aude beim Wäschewaschen. Sie standen halb im Wasser, halb auf dem Trockenen und schlugen die Kleidungsstücke klatschend auf flache graue Steine. Von der einzigen Holzbrücke, die das Marschland und die Dörfer im Norden mit Carcassonne und seinen Vororten verband, war das gleichförmige Rumpeln von Rädern zu hören. Andere wateten einfach an der flachsten Stelle durch den Fluss, ein steter Strom von Landarbeitern, Bauern und Händlern. Einige trugen Kinder auf den Schultern, manche trieben Tiere vor sich her, und alle wollten zum Wochenmarkt auf dem Hauptplatz.
Sie ritten, ohne miteinander zu reden. Als sie von dem offenen Gelände in den Schatten der Sumpfweiden kamen, merkte Alaïs, dass ihre Gedanken abschweiften. Die vertraute Bewegung des Pferdes unter ihr, das Zwitschern der Vögel und das endlose Zirpen der Zikaden im Schilf, das alles beruhigte sie, und eine Zeit lang vergaß Alaïs beinahe den Zweck ihres Ausflugs.
Das ungute Gefühl kehrte zurück, als sie die Ausläufer des Waldes erreichten. Sie ritten jetzt hintereinander zwischen den Bäumen hindurch. Ihr Vater wandte sich kurz um und lächelte ihr zu. Alaïs war ihm dafür dankbar, denn ihre Nervosität war wieder da. Sie war angespannt, lauschte auf das kleinste Anzeichen von Gefahr. Die Sumpfweiden schienen bedrohlich über ihr aufzuragen, und sie stellte sich Augen in den dunklen Schatten vor, die sie beobachteten, warteten. Bei jedem Rascheln im Unterholz, bei jedem Flattern eines Vogels raste ihr Herz.
Alaïs wusste selbst nicht genau, was sie erwartet hatte, aber als sie die Lichtung erreichten, war alles ruhig und
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