Das Verlorene Labyrinth
Haar umgab seinen Kopf wie ein Heiligenschein. Er stand so reglos wie eine in Stein gehauene Statue auf einem Grab.
Als hätte er gespürt, dass sie ihn ansah, erwiderte er ihren Blick und lächelte.
Für einen Moment vergaß sie, dass er doch böse auf sie sein musste, weil sie einfach hereingestürmt war, obwohl sie versprochen hatte, draußen zu warten, und lächelte ihm schwach zu.
Genau wie Shelagh gesagt hat.
Dann merkte sie, dass irgendwas an ihm anders war. Sie blickte auf Audrics Hände, die er gespreizt vor dem Weiß der Robe gekreuzt hielt.
Der Ring fehlt.
»Shelagh ist hier«, flüsterte sie tonlos. »Sie hatten Recht.«
Er nickte.
»Wir müssen irgendetwas tun«, zischelte sie.
Er schüttelte kaum merklich den Kopf und deutete mit den Augen zur anderen Seite der Kammer.
Sie folgte seinem Blick.
»Will!«, flüsterte sie fassungslos. Erleichterung durchströmte sie, und noch etwas anderes, gefolgt von Mitleid angesichts seines Zustandes. Seine Haare waren blutverklebt, ein Auge war zugeschwollen, und im Gesicht und an den Händen hatte er Schürfwunden.
Aber er ist hier. Bei mir.
Beim Klang ihrer Stimme schlug Will die Augen auf. Er spähte in die Dunkelheit. Dann, als er sie sah und erkannte, verzog ein schwaches Lächeln seine aufgeplatzten Lippen.
Einen Moment lang blickten sie einander tief in die Augen. Mein Geliebter.
Diese Erkenntnis gab ihr Mut.
Das traurige Heulen des Windes im Tunnel wurde stärker und vermischte sich mit dem leisen Murmeln einer Stimme. Ein monotoner Sprechgesang. Alice konnte nicht bestimmen, wo er herkam. Fragmente seltsam vertrauter Worte und Sätze hallten durch die Höhle, bis die Luft ganz von Klang durchdrungen war: montanhas, Berge; Noblesa, Adel; libres, Bücher; graal, Gral. Alice fühlte sich plötzlich leicht benommen, berauscht von den Worten, die in ihrem Kopf hallten, wie die Glocken einer Kathedrale.
Als sie schon glaubte, es nicht mehr länger auszuhalten, hörte der Gesang auf. Die Melodie wurde rasch leiser, verklang und hinterließ bloß noch eine Erinnerung.
In die angespannte Stille hinein ertönte eine einzelne Stimme. Eine Frauenstimme, klar und deutlich.
Am Anbeginn der Zeit Im Lande Ägypten Schenkte der Herr der Geheimnisse Wörter und Schriften.
Alice riss den Blick von Wills Gesicht los und schaute dahin, wo die Stimme herkam. Marie-Cecile trat wie eine Erscheinung aus der Dunkelheit hinter dem Altar. Wie sie dastand, vor dem Labyrinth, glitzerten ihre grünen Augen, die mit Schwarz und Gold umrandet waren, wie Smaragde im flackernden Licht. Ihr Haar wurde von einem goldenen Reif mit einem Diamanten auf der Stirn zurückgehalten und schimmerte pechschwarz. Bis auf die passenden Amulette aus gebogenem Metall waren ihre eleganten Arme nackt.
Sie hielt die drei Bücher übereinander gestapelt in den Händen. Sie legte sie in einer Reihe auf dem Altar aus, wo schon eine schlichte Tonschale stand. Als sie die Hand hob, um die Öllampe zurechtzurücken, bemerkte Alice fast unterbewusst, dass Marie- Cecile Audrics Ring am linken Daumen trug.
An ihrer Hand sieht er falsch aus.
Alice hatte das Gefühl, tief in eine Vergangenheit eingetaucht zu sein, an die sie sich nicht erinnerte. Das Pergament müsste sich trocken und spröde anfühlen, wie tote Blätter an einem Baum im Herbst. Und sie spürte förmlich die Lederbänder zwischen den eigenen Fingern, weich und biegsam, obwohl sie doch nach so vielen Jahren, in denen sie nicht berührt worden waren, ganz steif sein müssten. Es war, als hätte sich die Erinnerung in ihren Körper, in Haut und Knochen eingeschrieben. Sie erinnerte sich, wie die Einbände schimmerten und je nach Lichteinfall die Farbe wechselten.
Sie konnte das Bild eines kleinen goldenen Kelches sehen, nicht größer als eine Zehn-Cent-Münze, das wie ein Solitär auf dem dicken, cremefarbenen Pergament leuchtete. Auf den folgenden Seiten waren Zeilen in Zierschrift. Sie hörte Marie-Cecile in das Halbdunkel sprechen und sah zugleich vor ihrem geistigen Auge die roten und blauen und gelben und goldenen Lettern. Das Buch der Arzneien.
Bilder von zweidimensionalen Figuren, Tiere und Vögel, fluteten in ihren Kopf. Sie stellte sich ein Pergamentblatt vor, dicker als die anderen Seiten, aber anders - durchscheinend, gelb. Es war Papyrus, die Maserung der Stängel noch sichtbar. Das Blatt war mit den gleichen Symbolen bedeckt wie zu Anfang des Buches, nur diesmal durchsetzt mit winzigen Zeichnungen von Pflanzen,
Weitere Kostenlose Bücher