Das Verlorene Labyrinth
du sie gehen lassen«, sagte sie.
Oriane schüttelte den Kopf. Ihr Haar hatte sich gelöst, und ihre Augen waren wild, besessen. Sie hielt Alaïs ' Blick fest und ritzte Bertrande dann langsam mit voller Absicht die Haut.
Wieder schrie Bertrande auf, und Blut rann ihr am Hals hinab. »Der nächste Schnitt wird tiefer«, sagte Oriane mit vor Hass bebender Stimme. »Hol endlich das Buch.«
Alaïs bückte sich und hob den Ring auf, dann trat sie vor das Labyrinth. Oriane folgte ihr, zerrte Bertrande mit sich. Alaïs hörte ihre Tochter immer schneller atmen, als würde sie langsam das Bewusstsein verlieren, während sie auf den noch immer gefesselten Füßen nach vorne taumelte.
Sie blieb kurz stehen und ließ ihre Gedanken zu dem Augenblick zurückwandern, als sie zum ersten Mal sah, wie Harif dieselbe Handlung vollzog.
Alaïs legte die linke Hand an das raue Steinlabyrinth. Ein stechender Schmerz schoss ihr durch den verletzten Arm. Sie brauchte keine Kerze, um das ägyptische Symbol des Lebens zu sehen, das Anch genannt wurde, wie sie von Harif gelernt hatte.
Sie drehte den Rücken so, dass Oriane nicht sehen konnte, was sie tat. Dann schob sie den Ring in eine kleine Öffnung unten am Mittelkreis des Labyrinths, direkt vor ihrem Gesicht. Um Bert- rande willen betete sie inbrünstig, dass es funktionieren würde. Nichts war so gesprochen, nichts so vorbereitet worden, wie es hätte sein sollen. Die Umstände konnten sich gar nicht stärker von damals unterscheiden, dem einzigen Mal, dass sie als Bittende vor dem Steinlabyrinth gestanden hatte.
»Dai Anch dschet«, murmelte sie. Die uralten Worte waren wie Asche in ihrem Mund. Ein deutliches Klicken war zu hören, wie ein Schlüssel im Schloss. Einen Augenblick lang tat sich nichts. Dann drang aus der Tiefe der Wand ein Geräusch, als bewegte sich Stein gegen Stein.
Alaïs trat beiseite, und Guilhem sah in dem Dämmerlicht, dass sich genau in der Mitte des Labyrinths eine Art Nische geöffnet hatte.
»Nimm es heraus«, befahl Oriane. »Leg es auf den Altar.«
Alaïs tat wie geheißen, ohne die Augen vom Gesicht ihrer Schwester zu nehmen.
»Und jetzt lass sie los. Du brauchst sie nicht mehr.«
»Schlag es auf«, schrie Oriane. »Ich will sichergehen, dass du mich nicht betrügst.«
Guilhem schob sich noch näher heran. Auf der ersten Seite war ein goldschimmerndes Symbol, das er noch nie gesehen hatte. Ein Oval, fast tropfenförmig, über einer Art Kreuz, so ähnlich wie ein Hirtenstab.
»Weiter«, sagte Oriane. »Ich will alles sehen.«
Alaïs ' Hand zitterte, als sie die Seiten umblätterte. Guilhem sah seltsame Zeichnungen und Linien, Reihe um Reihe mit dicht gedrängten Symbolen, die das gesamte Blatt bedeckten.
»Nimm es, Oriane«, sagte Alaïs , bemüht, ihre Stimme ruhig zu halten. »Nimm das Buch, und gib mir meine Tochter zurück.« Guilhem sah die Klinge aufblitzen. Plötzlich wusste er, was geschehen würde, den Bruchteil einer Sekunde, bevor es geschah.
Er wusste, dass Oriane aus Neid und Bitterkeit alles zerstören würde, was Alaïs liebte oder schätzte.
Er warf sich gegen Oriane und riss sie zur Seite. Er spürte, wie seine Rippen nachgaben, und hätte vor Schmerzen fast das Bewusstsein verloren, aber er hatte sie mit solcher Wucht getroffen, dass sie Bertrande losließ.
Das Messer fiel ihr aus der Hand und schlitterte in den Schatten hinter dem Altar. Bertrande wurde bei dem Zusammenprall nach vorn geschleudert, schlug mit dem Kopf auf die Ecke des Altars und sackte sofort zusammen.
»Guilhem, nimm Bertrande«, schrie Alaïs . »Sie ist verletzt, Sajhë ist verletzt. Hilf ihnen. Im Dorf wartet ein Mann namens Harif. Er wird dir helfen.«
Guilhem zögerte.
»Bitte, Guilhem. Rette sie!«
Ihre letzten Worte gingen fast unter, als Oriane taumelnd wieder auf die Beine kam. Sie hatte wie durch ein Wunder das Messer wieder in der Hand und warf sich auf Alaïs . Die Klinge schnitt ihr tief in den bereits verletzten Arm.
Guilhem hatte das Gefühl, als zerrisse ihm das Herz in der Brust. Er wollte Alaïs nicht mit Oriane allein lassen, aber er sah auch, dass Bertrande bleich und reglos auf dem Boden lag.
»Bitte, Guilhem. Schnell!«
Mit einem letzten Blick zu Alaïs hob er seine Tochter auf, versuchte, möglichst nicht auf das Blut zu achten, das aus der Wunde strömte, und lief los. Genau wie Alaïs es wollte.
Als er schwerfällig durch die Kammer taumelte, hörte er ein Grollen, wie Donner zwischen den Bergen. Er strauchelte und
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