Das Verlorene Labyrinth
glaubte schon, seine Beine könnten ihn nicht mehr tragen. Er lief weiter, erreichte die oberste Stufe und den Tunnel, obwohl er auf losen Steinen ausrutschte und ihm die Beine und Arme vor Schmerz brannten. Dann wurde ihm klar, dass der Boden sich bewegte, vibrierte. Die Erde unter seinen Füßen bebte.
Er hatte fast keine Kraft mehr. Bertrande hing schlaff in seinen Armen und schien mit jedem Schritt schwerer zu werden. Und das grollende Geräusch wurde lauter, während er sich weiterkämpfte. Staub und erste Felsstücke lösten sich aus der Decke und fielen herab.
Jetzt konnte er die frische Luft spüren, die ihn begrüßte. Noch ein paar Schritte, und er war wieder draußen in der grauen Dämmerung.
Guilhem lief zu Sajhë , der noch immer bewusstlos war, jedoch gleichmäßig atmete.
Bertrande war totenblass, aber sie begann zu wimmern und sich in seinen Armen zu bewegen. Er legte sie neben Sajhë auf den Boden. Dann lief er zu den toten Soldaten, zerrte jedem den Mantel vom Rücken, um die beiden damit zuzudecken. Schließlich riss er sich den eigenen Mantel von den Schultern, so heftig, dass die Fibel aus Silber und Kupfer im hohen Bogen in den Schmutz flog. Er rollte ihn zusammen und schob ihn als Kissen unter Bertrandes Kopf.
Er zögerte kurz und küsste seine Tochter auf die Stirn.
»Filha«, murmelte er. Es war der erste Kuss, den er ihr gab, und es würde der letzte sein.
Ein gewaltiges Krachen war aus der Höhle zu hören, wie ein Blitzschlag nach dem Donnergrollen. Guilhem eilte zurück in den Tunnel. In dem engen Raum war das Geräusch ohrenbetäubend.
Er merkte, dass ihm etwas aus der Dunkelheit entgegengestürzt kam.
»Ein Geist ... ein Gesicht«, stammelte Oriane, die Augen halb wahnsinnig vor Angst. »Ein Gesicht in der Mitte des Labyrinths.«
»Wo ist sie?«, schrie er und packte ihren Arm. »Was habt Ihr mit Alaïs gemacht?«
Oriane hatte überall Blut, an den Händen, an der Kleidung.
»Da sind Gesichter im ... Labyrinth.«
Oriane schrie kreischend auf. Guilhem fuhr herum, um zu sehen, was hinter ihm war, konnte aber nichts erkennen. Und im selben Augenblick stieß Oriane ihm das Messer in die Brust.
Er wusste, dass sie ihm einen tödlichen Stoß versetzt hatte. Er spürte sofort, wie der Tod sich in seinem Körper ausbreitete. Seine Augen trübten sich, und er sah sie wie durch Wolken von ihm weglaufen. Aber er spürte auch, wie die Rachsucht in ihm starb. Sie war nicht mehr wichtig.
Oriane lief in das graue Licht des vergehenden Tages, während Guilhem blind hinunter zur Kammer torkelte, von dem einzigen Gedanken beseelt, Alaïs in dem Chaos aus Felsen und Steinen und Staub zu finden.
Sie lag in einer kleinen Senke im Boden, die Finger um den Beutel geschlungen, der das Buch der Wörter enthalten hatte, den Ring fest in der Hand umklammert.
»Mon c e r«, flüsterte er.
Beim Klang seiner Stimme öffneten sich ihre Augen flackernd. Sie lächelte, und Guilhem wurde warm ums Herz.
»Bertrande?«
»Sie ist in Sicherheit.«
» Sajhë ?«
»Auch er wird überleben.«
Ihr Atem stockte. »Oriane ...«
»Ich habe sie laufen lassen. Sie ist schwer verletzt und wird nicht weit kommen.«
Die letzte Flamme der Lampe, die noch immer auf dem Altar brannte, flackerte und erstarb. Alaïs und Guilhem merkten es nicht. Sie lagen sich in den Armen und nahmen weder die Dunkelheit noch den Frieden wahr, der sich über die Kammer senkte. Sie spürten nichts außer einander.
Kapitel 82
Pic de Soularac
Freitag, 8. Juli 2005
D ie dünne Robe schützte kaum gegen die kühle Feuchtigkeit der Kammer. Alice fröstelte, als sie langsam den Kopf drehte.
Rechts von ihr war der Altar. Das einzige Licht kam von einer altertümlichen Öllampe, die mitten auf dem Altar stand und fließende Schatten auf die schrägen Wände warf. Es war hell genug, um das Labyrinth auf der Felswand dahinter zu sehen, groß und imposant in dem engen Raum.
Sie spürte, dass noch andere Menschen in der Nähe waren. Alice schaute zu Boden und hätte fast aufgeschrien, als sie She lagh entdeckte. Sie lag zusammengerollt auf den Steinen wie ein Tier, dünn, leblos, zerstört, überall auf ihrer Haut die Spuren der Misshandlungen. Alice konnte nicht sehen, ob sie noch atmete.
Lieber Gott, bitte, lass sie am Leben sein.
Allmählich gewöhnte sich Alice an das flackernde Licht. Sie wandte leicht den Kopf und sah Audric an derselben Stelle wie zuvor. Er war noch immer an den Ring im Boden gebunden. Sein weißes
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