Das Verlorene Labyrinth
das Nahen der Pferde zu übertönen.
Er schlug sie erneut, und ihre Lippe platzte auf. Sie schmeckte Blut im Mund.
»Putain.«
Plötzlich ertönten andere Stimmen. »Ara, ara!« Jetzt.
Alaïs hörte das Pling eines Bogens und das Schwirren eines Pfeils durch die Luft, und dann wieder und wieder, als ein ganzer Hagel von Pfeilen aus den immergrünen Schatten geflogen kam und Rinde und Holz zersplittern ließ, wo immer sie auftrafen. »Avança! Ara, avança!«
Der Franzose sprang auf, doch im selben Moment bohrte sich ein Pfeil in seine Brust, dick und schwer, und riss ihn herum wie einen Kreisel. Einen Moment lang schien er sich aufrecht zu halten, dann begann er zu schwanken, die Augen starr wie der versteinerte Blick einer Statue. Ein einzelner Blutstropfen quoll ihm aus dem Mundwinkel und rann am Kinn herab.
Seine Beine knickten ein. Er fiel auf die Knie, wie zum Gebet, dann kippte er zuerst sehr langsam nach vorn, wie ein gefällter Baum. Alaïs kam noch gerade rechtzeitig zur Besinnung und rollte sich aus dem Weg, als der Körper schwer zu Boden krachte. »Aval! Da vorn!«
Die Reiter ritten hinter dem anderen Franzosen her. Er war in den Wald gelaufen, um Deckung zu suchen, aber jetzt flogen noch mehr Pfeile. Einer traf ihn in die Schulter, und er strauchelte. Der nächste traf ihn hinten in den Oberschenkel. Der dritte erwischte ihn im Kreuz und brachte ihn zu Fall. Er stürzte bäuchlings zu Boden, zuckte kurz und lag dann still.
Dieselbe Stimme befahl das Ende der Jagd. »Arest. Aufhören.« Endlich kamen die Reiter aus dem grünen Halbdunkel und zeigten sich. »Nicht mehr schießen.«
Alaïs stand auf. Freunde oder Männer, vor denen sie sich auch fürchten musste? Der Anführer trug einen kobaltblauen Jagdrock unter seinem Mantel, beides von guter Qualität. Seine schweren, schlichten Stiefel sowie sein Gürtel und Köcher waren aus dem in dieser Gegend üblichen hellen Leder gefertigt. Er sah aus wie ein Mann von bescheidenem Ansehen und geringen Mitteln, wie ein Mann des Midi.
Sie hatte noch immer die Hände auf dem Rücken gefesselt, und ihr war klar, dass sie kaum einen Vorteil auf ihrer Seite hatte. Ihre Lippe war geschwollen und blutete, und ihre Kleidung war verdreckt.
»Seigneur, habt Dank für Eure Hilfe«, sagte sie und ließ ihre Stimme möglichst selbstbewusst klingen. »Hebt Euer Visier und zeigt Euch, damit ich das Gesicht meines Befreiers sehen kann.« »Ist das schon der ganze Dank, den ich bekomme?«, fragte er und tat wie geheißen. Alaïs sah erleichtert, dass er lächelte.
Er stieg vom Pferd und zog ein Messer aus dem Gürtel. Alaïs wich einen Schritt zurück. »Um Eure Fesseln durchzuschneiden«, sagte er munter.
Alaïs errötete und hielt ihm die Handgelenke hin. »Natürlich.
Merce.«
Er verneigte sich knapp. »Amiel de Coursan. Die Wälder hier gehören meinem Vater.«
Alaïs stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Verzeiht mir meine Grobheit, aber ich musste mich vergewissern, dass Ihr nicht ...«
»Eure Vorsicht ist unter den gegebenen Umständen sowohl klug als auch verständlich. Und Ihr seid?«
» Alaïs von Carcassona, Tochter von Intendant Pelletier, dem Haushofmeister des Vicomte Trencavel, und Gemahlin von Guil- hem du Mas.«
»Ich fühle mich geehrt, Eure Bekanntschaft machen zu dürfen, Dame Alaïs .« Er küsste ihre Hand. »Seid Ihr verletzt?«
»Nur ein paar Kratzer und Prellungen, doch beim Sturz vom Pferd bin ich auf die Schulter gefallen, und sie schmerzt ein wenig.«
»Wo ist Euer Geleit?«
Alaïs zögerte kurz. »Ich reise allein.«
Er blickte sie erstaunt an. »Ihr habt Euch ungewöhnliche Zeiten ausgesucht, um ohne Schutz zu reisen, Dame Alaïs . Hier in der Gegend wimmelt es von französischen Soldaten.«
»Es war nicht meine Absicht, so spät noch unterwegs zu sein. Ich suchte nur Schutz vor dem Unwetter.«
Alaïs blickte zum Himmel, weil ihr plötzlich auffiel, dass es noch immer nicht regnete.
»Der Himmel hat nur ein wenig gegrollt«, sagte er, ihren Blick richtig deutend. »Ein falscher Alarm, mehr nicht.«
Während Alaïs Tatou beruhigte, befahl de Coursan seinen Leuten, den Getöteten Waffen und Kleidung abzunehmen. Ihre Wappenröcke und Rüstungen entdeckten sie tiefer im Wald, wo sie auch ihre Pferde angebunden hatten. Mit der Spitze seines Schwertes hob de Coursan eine Ecke des Stoffes an, und unter einer Schicht aus getrocknetem Schlamm blitzte etwas silbern auf grünem Grund auf.
»Chartres«, sagte de Coursan voller
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