Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das verlorene Land

Das verlorene Land

Titel: Das verlorene Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Birmingham
Vom Netzwerk:
sein wird. Ihr wisst ja, dass es in den letzten Jahren hauptsächlich ums nackte Überleben ging. Wir mussten zusehen, dass wir satt werden, unsere Häuser verteidigen und die Kinder durchbringen. Das war …«
    Er hielt inne und suchte nach den richtigen Worten. Zum großen Kummer seiner Mitarbeiter trat Kipper selten mit einer vorbereiteten Rede vor sein Publikum.
    »… das war, na ja, man könnte es eine Herausforderung nennen, aber das wäre nicht ganz richtig. Es war die Hölle.«
    Im Saal war es jetzt ganz still.
    »Der 14. März 2003 war der Tag, an dem wir in die Hölle gefahren sind. Das ist die einzige Art, wie ich es beschreiben kann, denn noch immer wissen wir ja nicht, was passiert ist, und ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass wir es jemals herausfinden werden. Ich habe Hunderte von Wissenschaftlern auf die Erforschung dieses Ereignisses angesetzt. Sie haben jede Menge Theorien aufgestellt und Experimente gemacht, um zu ergründen, wo dieser Effekt herkam und was er mit unseren Freunden und Angehörigen gemacht hat. Sie haben jahrelang herumgeforscht und wissen immer noch nichts. Vielleicht ist es also Zeit, die ganze Sache aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Deshalb ist Adam Ford heute Abend hierhergekommen. Er ist kein Wissenschaftler, er ist Dichter,
und wenn ich auf das zurückblicke, was uns passiert ist, auf das Große Verschwinden, dann frage ich mich, ob seine Methode, nach der Bedeutung dieser Ereignisse zu fragen, nicht genauso wertvoll ist wie alle Berichte, die diese Wissenschaftler für mich abgefasst haben. Womöglich sogar wertvoller.« Er bedeutete dem Dichter, dass er sich durch die Mikrofone nach vorn durcharbeiten sollte. »Adam?«
    Unter donnerndem Applaus stieg der Dichterfürst aufs Podium, während der Präsident es verließ. Ford zog ein einziges Blatt aus der Brusttasche seines Jacketts und hustete, bevor er sich bei Kipper bedankte. Dann wartete er, bis sich das Raunen gelegt hatte. Als es ganz ruhig war, begann er zu lesen.
    »Das Gedicht trägt den Titel ›Nachspiel‹«, sagte er und begann:
    »Sie versanken nicht im Meer. Sie fielen nicht im Krieg.
    Wir waren nicht bei ihnen, als sie ein letztes Mal um Atem rangen.
    Keine Leichen zu identifizieren.
    Doch sie waren da. Und sie verschwanden.
    Wir blieben zurück, orientierungslos,
    Ohne Beweise oder gar Gewissheit, was geschah,
    Keine Brandspuren an den Hauswänden,
    Keine Berge von Glas, Koffern und Schuhen,
    Keine aufgestapelten Totenschädel, keine Filmaufnahmen
    Von herabrieselnden Papierfetzen oder zerberstendem Glas.
    Nur dieses unendlich tiefe Gefühl von Trauer,
    Das unsere Welt verzerrt wie ein Schwarzes Loch -
    Einer Trauer, die wir Nicht-Verschwundenen,
    Bei uns tragen, auf der Suche nach einem Ort
    In dieser fremden, neuen, veränderten Welt.«

01
    New York
    »Nein, Mr. President, die kriegt man nicht vom Kätzchenkraulen.«
    James Kipper nickte und lächelte zweifelnd, als der breitschultrige Arbeiter seine Oberarmmuskeln anspannte und jedem davon einen Kuss aufdrückte. Seine Sicherheitsleute schienen nicht weiter beunruhigt zu sein. Kipper achtete inzwischen ganz automatisch auf ihre unausgesprochenen Signale und ihre Körpersprache. Sie schienen von den Arbeitern dieser Bergungsmannschaft weniger beunruhigt als von den zerstörten Fassaden der Bürohäuser von Manhattan, zwischen denen sich die verrosteten Überreste einer Massenkarambolage türmten. Es war heiß und feucht, wie immer im Juni, und der Arbeiter war völlig durchgeschwitzt. Auch Kipper spürte, dass sein Hemd am Rücken klebte.
    Nachdem er seine Ballonmuskeln liebkost hatte, streckte der Arbeiter eine seiner gigantischen, schwieligen Pranken aus, um dem 44. Präsidenten der USA die Hand zu schütteln. Kippers Lächeln war nicht mehr so breit wie einst, und es war bestimmt nie so breit gewesen wie das von diesem Gorilla, aber seine Jahre bei den Stadtwerken hatten seine Finger nicht kraftlos und seinen Händedruck nicht schlapp werden lassen. Er erwiderte die eisenharte Umklammerung mit einem immerhin bemerkbaren kräftigen Zudrücken.
    »Donnerwetter, Mr. President«, sagte der Arbeiter scherzhaft. »Vorsicht, ich brauche meine Wurstfinger noch für meinen Nebenjob als Konzertpianist.«

    Die Männer und Frauen, die Kipper umringten, grinsten und kicherten. Der Typ war ganz offensichtlich der Witzbold dieser Truppe.
    »Ein Konzertpenis?«, gab Kipper zurück. »Ist das was Neues? Geht das denn, ohne dass man diese hübschen kleinen

Weitere Kostenlose Bücher