Das verlorene Land
»Nicht wie in der … wie hieß die letzte Straße, die wir überquert haben, wo die Räumungsarbeiten stattfinden?«
»Water Street, Sir«, sagte einer seiner Sicherheitsleute. Er war neu hinzugekommen. Kipper kannte seinen Namen nicht, aber er hatte einen New Yorker Akzent. Wer weiß, was im Augenblick in seinem Kopf vorging.
»Die meisten Autos waren geparkt, als der Effekt kam«, fügte Culver hinzu. »Hier waren vor allem Fußgänger unterwegs und Fahrradfahrer, Gesundheitsfanatiker und solche Leute. Auf der Water Street war mehr los.«
Culvers Südstaatentonfall hatte einen leichten Louisiana-Touch, der sich nach einigen Auslandsaufenthalten abgeschwächt hatte. Nun schwieg er angesichts dieser gigantischen Nekropolis, in der Millionen von Menschen verschwunden waren, es war einfach zu bedrückend. Kipper
wandte sich ab und ließ seinen Blick durch die schattige Häuserschlucht schweifen, die einstmals das Finanzzentrum der Welt gewesen war. Zwischen Water und Wall Street erstreckte sich ein Schrottplatz aus gelben Taxis, Privatautos und einem gepanzerten Lieferwagen, der von einem Lastwagen erfasst und umgestoßen worden war. Der Aufprall hatte die Hecktüren aufgerissen, und man konnte die sandfarbenen Säcke sehen, die herausgefallen waren und in denen sich die alten, jetzt wertlosen Geldscheine befanden. Niemand interessierte sich mehr für dieses Geld, das längst von einer neuen Währung namens New American Dollar ersetzt worden war. Sie drehten um und gingen wieder in Richtung des schweren Räumgeräts, der Presslufthämmer und des dröhnenden Lärms.
Das waren die lautesten Geräusche in der Stadt.
Kipper schüttelte den Kopf.
»Kommen Sie«, sagte er. »Gehen wir weiter.«
An der Ecke, wo das Gebäude der JP Morgan Bank stand, konnte man einen Blick auf die verwitterte Fassade der New Yorker Börse werfen. Eine große, schmutzige und zerfetzte amerikanische Fahne hing schlaff zwischen den römischen Säulen des neoklassischen Portals, das von Weinranken und Nylonseilen überzogen war. Kipper war nie in der Wall Street gewesen, nicht mal in New York. Auf Fotos hatte diese Straße immer viel größer gewirkt. Aber nun stand er hier vor dem Gebäude, das einst den mächtigen Motor des globalen Kapitalismus beherbergt hatte, und es kam ihm klein, beinahe sogar mickrig vor.
Am Ende der Straße entdeckte er eine Art Kirche, die zwischen den Wolkenkratzern sehr unscheinbar aussah. Kipper war nicht religiös, aber der Anblick des Kirchturms stimmte ihn noch melancholischer, machte ihn beinahe depressiv. Mehr als nur ein paar Wirrköpfe hatten den Effekt als das Ende der Welt interpretiert. Er selbst allerdings
glaubte, dass es eine rationale Erklärung für die schreckliche Katastrophe geben musste.
Aber welche Erklärung das sein könnte, wusste niemand.
Er seufzte tief.
Die Delegation war sehr klein. Nur Kipper, Jed Culver, seine Stabschefin Karen Milliner und ein halbes Dutzend Sicherheitsleute in dunklen Overalls und mit Kampfausrüstung gehörten dazu. Die konnte man einfach nicht loswerden. Jede Menge Plünderer suchten zurzeit die Ostküste heim und nahmen alles mit, was nicht niet- und nagelfest war, angefangen bei Sportwagen und schwerem Gerät bis hin zu Computer-Spielkonsolen und Schmuck. Kipper musste oft an die alten Ureinwohner Amerikas denken und ihr Schicksal, als die Europäer auftauchten. Auch jetzt war der ganze Kontinent reif für eine Übernahme, und niemand in der Welt dort draußen schien sich Gedanken darüber zu machen, dass eine kleine Gruppe von Einheimischen bereits Anrechte hatte.
Die traurige Ironie war in seinen Augen, dass die eigentlichen Ureinwohner vom Effekt wahrscheinlich vollkommen ausgelöscht worden waren. Er hatte keine Ahnung, wie viele von ihnen übrig geblieben waren. Die Volkszählung im nächsten Jahr würde möglicherweise etwas Licht in die Sache bringen. Bislang war einfach keine Zeit gewesen, sich zu vergewissern, wie groß die US-Bevölkerung überhaupt noch war. Es gab zu viel zu tun, um das nackte Überleben zu sichern. So war zum Beispiel die Ostküste inzwischen von Piraten und Gangstern überrannt worden. Viele von ihnen gehörten zu großen kriminellen Organisationen aus Europa oder Südamerika, manche operierten mit der stillschweigenden Rückendeckung bestimmter Staaten, jedenfalls wenn sie aus Gegenden stammten, wo es noch Staaten gab. Andere, kleinere Gruppen waren in der Karibik beheimatet, aber es gab auch Banden, die aus
Afrika oder
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