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Das verlorene Observatorium

Das verlorene Observatorium

Titel: Das verlorene Observatorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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und das Spray fühlte sich sehr kühl und beruhigend an.
    Später in diesem Sommer kam Anna zu mir in Wohnung 6 und sagte, meine Unterlippe sei angeschwollen. Das wußte ich auch selbst, war ich mir doch jeden Details, attraktiv oder nicht so attraktiv, meines siebenunddreißigjährigen Körpers nur zu bewußt. Anna hielt eine kleine Cremetube in der Hand. Die habe ich für Sie gekauft, sagte sie. Es ist für Ihre Lippe, es wird die Schwellung lindern. Ich hielt die Tube mit der Lippencreme in meinen weißen Händen. Einige wenige Augenblicke dachte ich darüber nach, dann sagte ich: Das kann ich nicht annehmen. Ich darf keine Creme auf meine Finger bekommen, ob sie nun weiß ist oder transparent.
    Anna nahm die Tube Lippencreme.
    Anna drückte etwas von der Lippencreme auf einen ihrer Finger ohne Handschuh. Annas Finger berührte meine Unterlippe. Sie trug Creme auf die Unterlippe auf. Annas Finger verrieb diese Creme über meine Unterlippe, bis mir ein wenig schwindlig wurde und ich mich setzen mußte.
    In dieser Nacht lag ich auf meinem Bett und dachte daran, daß Anna Taps Finger tatsächlich meine Unterlippe berührt hatte. Wahrend sie dies tat, ich erinnerte mich sehr genau daran, befand sich ihr Gesicht sehr dicht an meinem. Ich konnte ihren Atem riechen, der nach Zigaretten roch, und sehr deutlich die Sommersprosse sehen, die genau auf der Mitte ihrer Nasenspitze saß. Außerdem sah ich auf kurze Distanz Anna Taps Lippen.
    Zwei Wochen lang trug Anna Tap täglich die Creme auf meine Lippe auf. Und jeden Tag, den sie die Creme auftrug, konnte ich ihr Gesicht sehr sorgfältig studieren. Manchmal, wenn ich ihr Gesicht ansah, schaute ich ihr in die Augen, und einmal schaute sie mir dabei in die Augen. Nicht sehr lange. Mir wurde wieder schwach. Am Ende der zwei Wochen war meine Unterlippe nicht mehr geschwollen, und Anna hörte mit dem Lippeneincremen auf.
    Ich erinnere mich voller Bedauern daran. Ich nehme an, es muß wohl ungefähr zu dieser Zeit gewesen sein, daß ich anfing, meine Einstellung zu Anna Tap zu überdenken. Zunächst hatte ich gedacht, daß überhaupt nichts Hübsches an ihr war. Nun erkannte ich, daß dies nicht stimmte. Ich fand ihre Nase hübsch und ihre Lippen nicht unattraktiv und ihr Lächeln vielversprechend. Selbst ihre Augen, vielleicht aufgrund ihrer Anfälligkeit, besaßen eine gewisse unaufdringliche Schönheit. Und sie hatte die mit Abstand beweglichsten Schulterblätter, die ich je gesehen hatte. Wenn sie zusammengekauert über einem Tisch las, dann sah es aus, als gehörten sie einem kleinen Vogel.
Eines Nachts auf der Straße
    Eines Nachts, als Mutter schlief und Vater mit Anna oben im heruntergekommenen Observatorium war, ging ich hinaus auf die Straße. Ich flüsterte ihren Namen in die Nacht. Anna, Anna, sagte ich. Zu den Straßen, zum Park, zu den Häusern. Ich hörte den Laut ihres Namens auf meinen Lippen. Ich hörte, wie sich ihr Geräusch still aus mir hob und in der sommerlichen Nachtluft klein und präzise klang.
    Anna.
    Anna.
    Anna.
    Erzähl mir von Handschuhen, Anna.
    Dies war eine gute Möglichkeit des Zeitvertreibs. Selbst wenn ich sie zehnmal am Tag bat, mir von Handschuhen zu erzählen, lächelte sie und begann erneut:
    Hände werden vom Handschuhschneider vermessen: die Breite über den Knöcheln, die Spanne vom ausgestreckten Daumen zum ausgestreckten kleinen Finger, die Länge von der Mitte des Handgelenks zur Spitze des längsten Fingers, die Dicke der Hand. Die Form der Hände werden auf einem Blatt Papier nachgezeichnet. Zwei Materialstücke werden für einen Handschuh benötigt. Das erste, das größte Stück, ist von der Hand abzüglich des Daumens. Es hat sieben Finger. Stellen Sie sich das so vor, als hätte man die Haut einer Hand entfernt und flach ausgebreitet, so daß der kleine Finger doppelt so breit ist wie die anderen Finger, denn anders als bei den anderen sind die Nagelseite und die Handflächenseite noch miteinander verbunden. Dieses Stück wird dann am kleinen Finger gefaltet, wodurch die Form einer Hand entsteht. Dann wird es zusammengenäht. An diesem Punkt gibt es noch ein Loch im Handschuh, durch das der nackte Daumen herausragen würde, falls man ihn jetzt überstreifte. Das zweite Stück ist ein länglicher Materialstreifen, der ebenfalls in der Mitte gefaltet und dann in der Form des Daumens zusammengenäht wird, um dann in das Loch des Handschuhs eingepaßt zu werden. Jetzt ist der Handschuh vollständig. Außerdem werden häufig zwei

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