Das Vermaechtnis
Meer war mein zu Hause. An Land fühlte ich überall Bedrohliches und ich hatte Angst vor allen und allem. Aber auf dem Wasser… Das Meer ist mein Freund.
Lange wäre das sowieso nicht gut gegangen. Irgendwann hätten sie gesehen, dass ich ein Mädchen bin oder hätten meine Haarfarbe gesehen, spätestens dann hätten sie mich geopfert. Sie haben alle geopfert, die irgendwie anders waren, nur, um die Götter zu besänftigen, denn in solchen armen Menschen sahen sie einfach die Ursache für alles, das nicht nach ihrem Willen funktionierte, vor allem für ausbleibende Regenfälle.
So kenne ich die Sterne, die waren und sind immer noch Wände und Decke meiner Hütte. Sie sind auch meine Freunde, sowie Sonne und Mond. Deswegen hatte ich ganz am Anfang, als ich in dieser Hütte aufwachte, große Angst. Weil ich keinen Himmel gesehen hatte, fühlte ich mich gefangen. Jetzt fühle ich den Himmel auch in all eueren Hütten!
Ich weiß, wie die Sterne wandern und welche an einem Ort bleiben oder sich nur ganz langsam bewegen. Zu jeder Jahreszeit. Ich weiß, wann sie wo untergehen und wann und wo sie wieder aufgehen. Ich kenne die Vögel und an ihrem Flug, wo Land zu finden und wie weit es dorthin ist. Den Vögeln folgte ich oft. Ich beobachtete die Wolken, ihre Formen, ihre Farben und ihre Bewegungen. Oder ich deutete die Veränderungen der Wellenformationen. Das Meer sprach zu mir und ich versuchte, seine Sprache zu verstehen. Bald schon lernte ich es zu verstehen und das Meer verstand mich. Das Meer und die Sterne waren meine besten Freunde, die einzigen, die ich auf der Erde lange hatte! Meine besten Freunde werden sie auch immer sein, aber jetzt seid ihr, du und der Kahuna, noch dazu gekommen, und all die anderen aus dem Dorf.
Auf dem Meer hatte ich manchmal das Gefühl zu träumen und an zwei Orten gleichzeitig zu sein, im Kanu und oben unter den Wolken. Von dort konnte ich weit voraus schauen und Entfernungen besser abschätzen und konnte die Strömung des Meeres besser erkennen und die Winde wahrnehmen. Das war mir eine große Hilfe! Denn ich konnte so die Richtung noch besser bestimmen und fand stets das nächste Land, das weit genug weg war von dem, wo ich herkam. Ja, die Luft, die Winde, die Wolken, die Vögel, die Fische, das Meer, sie alle, ja, sie wurden zu meiner Familie.“ Uhala’an nickt anerkennend, ja, sogar voller Bewunderung. Sie sagte nichts, um das Mädchen nicht zu unterbrechen.
„Zweimal ging ich an Land, zweimal musste ich wieder fliehen. Die Menschen wurden immer schlimmer. Durch meine Haare war ich eben anders, ich versuchte schon, sie mir selbst mit einem scharfen Stein zu kürzen, schmierte mir Ruß in die Haare, dennoch. Außerdem tauchte ich aus ihrer Sichtweise zu plötzlich auf. Aus dem Nichts. Vom Meer. Allein. Ein Mädchen. Woher? Alles an mir war befremdlich für sie. Jedes Mal erschien ich zudem noch zu einer ungünstigen Zeit, und so sahen sie in mir immer das Zeichen, das vernichtetet werden musste, damit sich ihre missliche Lage verbesserte. Es war furchtbar! Ich wollte leben und wollte sterben. Beides gleichzeitig.
Mehr kann ich nicht erzählen. Mehr geht nicht. Jetzt bin ich hier! Ich will nie, nie wieder weg! Eher will ich sterben!“
Wie ein kleines Mädchen schmiegt sie sich an Uhala’an und legt ihren Kopf auf ihren Schoß. Die einfühlsame Frau streichelt sanft über ihre langen, roten, welligen Haare.
„Wir wollen auch nicht, dass du wieder weggehst. Du bleibst bei uns, so lange du willst und wenn du es willst, dein Leben lang. Für mich ist es ein großes Geschenk der Götter und ein großes Glück, dass du da bist!“, sagt sie in sanftem Ton, in dem ein ausgeheiltes Schicksal klingt.
„Aber die alte Seherin, ‘Alana ,… Sie sieht mich immer so an, oder sie sieht rasch weg oder dreht sich ganz schnell um, wenn sie mich sieht. Sie mag mich nicht. Sie ist anders als die anderen.“ Alēi’na hält die Hand der Frau fest umklammert.
„Sie ist so, die gute alte ‘Alana . Sie verhält sich schon immer so, seit sie ein Mädchen ist und sie in eine Schlucht gestürzt war, aus der sie nicht mehr selbst herauskommen konnte. Sie war dort viele Tage gefangen und aß dort Wurzeln, kleine Tiere und trank Regenwasser, das sie in einem Blatt, gesammelt hatte. Das ganze Dorf war damals auf der Suche, meine Mutter hat mir die Geschichte oft erzählt. Und sie hatten sie endlich gefunden – durch Kahuna - Koī , der damals noch ein kleiner Junge war und kaum gehen konnte.
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