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Das Vermächtnis der Eszter

Das Vermächtnis der Eszter

Titel: Das Vermächtnis der Eszter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Erbsünde, von der die Bibel spricht. Es gibt eine Art Urlüge im Leben; es braucht lange, bis man das merkt. Willst du dich nicht setzen? Setz dich, Eszter, und hör mir zu. Nein, verzeih, für einmal möchte ich der Ankläger und der Urteilende sein. Bisher warst immer du es, die urteilte. Setz dich, bitte.«
    Er sprach höflich und ein wenig gebieterisch.
    »So, bitte«, sagte er und rückte für mich einen Stuhl zurecht. »Schau, Eszter, wir reden seit zwanzig Jahren von anderem. Die Sache ist nicht so einfach. Du hältst mir meine Verfehlungen vor – du und andere –, und leider hat es diese Verfehlungen wirklich gegeben. Du sprichst von Ringen und Lügen und nicht gehaltenen Versprechen und nicht eingelösten Wechseln. Es gab da auch noch anderes, Eszter. Schlimmeres. Man braucht nicht alles zu wissen … Ich will mich nicht herausreden … Aber diese Einzelheiten werden mein Los nicht mehr beeinflussen. Ich war immer ein schwacher Mensch. Ich hätte gern etwas gemacht im Leben, und ich glaube, ich war auch nicht ganz unbegabt. Doch Wünsche und Begabung reichen nicht aus. Das weiß ich jetzt. Um etwas zu schaffen, braucht es noch mehr … eine besondere Kraft, oder eine Disziplin, oder beides zusammen, und ich glaube, das ist es, was man im allgemeinen Charakter nennt … Und diese Fähigkeit, oder diese Eigenschaft, fehlt mir. Es ist eine merkwürdige Art von Taubheit. Man kennt die Musik ganz genau, man summt die Melodie, bloß hört man die Töne nicht. Als ich dich kennenlernte, wußte ich das noch nicht so genau, wie ich es dir jetzt sage … Ich wußte auch nicht, daß du für mich der Charakter bist. Verstehst du?«
    »Nein«, sagte ich ehrlich.
    Ich staunte nicht so sehr über seine Worte als über seine Stimme, über seine Art zu reden. Ich hatte ihn noch nie so gehört. Er sprach wie jemand, dem … Nein, ich kann den Ton nicht beschreiben. Er sprach wie jemand, der etwas sieht, eine Wahrheit, eine Entdeckung, wie jemand, der einer Wahrheit schon ganz nahe auf der Spur ist, er kann sie zwar noch nicht benennen, aber er nähert sich der Vision, und er schreit krampfhaft seine Eindrücke in die Welt hinaus. Er sprach wie jemand, der wirklich etwas spürt. Einen solchen Ton war ich von Lajos nicht gewohnt. Ich schaute ihn wortlos und aufmerksam an.
    »Es ist doch ganz einfach«, sagte er. »Du wirst es gleich verstehen. Du warst, du wärst für mich das gewesen, was mir fehlte: der Charakter. So etwas weiß man. Wer keinen Charakter oder keinen richtigen Charakter hat, der ist in moralischer Hinsicht ein wenig verkrüppelt. Solche Menschen gibt es. Wie jemand, der als menschliches Wesen völlig ausgebildet ist, bloß daß ihm eine Hand oder ein Fuß fehlt. Solche Menschen bekommen eine Prothese, und so werden sie arbeitsfähig und nützlich für die Welt. Entschuldige den Vergleich, aber eine solche Prothese hättest du für mich sein können … Eine moralische Prothese. Ich hoffe, ich habe dich nicht verletzt«, sagte er zärtlich und neigte sich zu mir.
    »Nein«, sagte ich, »bloß glaube ich das nicht, Lajos. Charakter läßt sich nicht übertragen. Moral kann man nicht von einem Menschen in einen anderen verpflanzen. Das sind Theorien. Verzeih.«
    »Nicht nur Theorien. Die Moral, verstehst du, ist ja nicht eine ererbte, sondern eine erworbene Eigenschaft. Man wird ohne Moral geboren. Die Moral der Wilden oder die Moral der Kinder ist eine andere als die eines Kurienrichters in Budapest oder Wien. Man eignet sich im Leben eine Moral an, so wie man sich sein Benehmen oder seine Bildung aneignet.« Er sprach wie ein Kenner, im Predigerton. »Es gibt Menschen, die für Charakter empfänglicher sind, ja, es gibt Charaktergenies, so wie es musikalische oder dichterische Begabungen gibt. Du bist so ein Charaktergenie, Eszter; nein, wehre nicht ab! Das spürte ich an dir. Ich habe in moralischen Fragen überhaupt kein Gehör, bin gewissermaßen ein Analphabet. Deshalb bin ich zu dir geflohen; vor allem deshalb, glaube ich.«
    »Das leuchtet mir überhaupt nicht ein«, sagte ich trotzig. »Aber wenn es auch so wäre, Lajos, kannst du doch nicht verlangen, daß jemand für die moralisch Unvollkommenen ein Leben lang die Amme spielt. Eine Frau kann nicht ein Leben lang die Moralamme sein.«
    »Eine Frau, eine Frau.« Er machte eine wegwerfende Gebärde. »Ich rede von dir, Eszter. Von dir«, sagte er rasch und höflich.
    »Eine Frau«, sagte ich. Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoß. »Ich

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