Das Vermächtnis der Eszter
»daß die meisten unserer Handlungen gar nicht vernünftig sind, und auch nicht zielgerichtet. Man macht Sachen auch dann, wenn man nichts davon hat, weder Nutzen noch Freude. Wenn du auf dein Leben zurückblickst, merkst du, daß du vieles gemacht hast, ganz einfach, weil es sich gerade so ergab.«
»Das ist mir ein bißchen zu hoch«, sagte ich bedrückt.
»Ach was, Eszter. Es ist bloß unbequem. Gegen Ende des Lebens hat man von der ganzen Zielgerichtetheit fürchterlich genug. Ich habe immer die Handlungen lieber gehabt, für die es keine Erklärung gibt.«
»Aber den Ring …«, sagte ich trotzig.
»Den Ring, den Ring«, sagte er gereizt. »Komm jetzt nicht schon wieder mit dem Ring. Habe ich Éva gesagt, daß du ihn aufbewahrst? Mag sein. Warum habe ich es gesagt? Weil der Augenblick so war, daß man es sagen mußte, weil es das Einfachste, Vernünftigste war. Du kommst mir mit dem Ring, Laci mit irgendeinem Wechsel … Was wollt ihr denn? Das ist doch alles vorbei und vergangen. Das Leben hebt alles auf. Man kann nicht dauernd unter Anklage leben. Wer ist schon so unschuldig, so mächtig, von innen her mächtig, wie du sagst, daß er ein Leben lang das Recht hat, andere zu verfolgen? Sogar das Gesetz weiß von Verjährung. Nur ihr wollt nichts davon wissen.«
»Meinst du nicht, daß du ungerecht bist?« fragte ich ruhiger.
»Mag sein.« Auch er war jetzt ruhiger. »Grenzen! Innere Grenzen! Während doch das Leben unbegrenzt ist. Begreif das endlich. Mag sein, daß ich Éva etwas gesagt habe, mag sein, daß ich schlecht gehandelt habe, gestern, oder vor zehn Jahren, Geld oder Ringe oder Wörter betreffend. Ich habe mir meine Handlungen nie überlegt. Schließlich ist man nur für das verantwortlich, was man geplant, sich vorgenommen hat. Man ist nur für seine Absichten verantwortlich … Was ist schon eine Handlung? Immer willkürlich, immer überraschend. Man steht daneben und schaut sich selbst beim Handeln zu. Die Absicht hingegen, die macht schuldig, Eszter. Meine Absichten waren immer lauter«, sagte er befriedigt.
»Ja«, sagte ich unsicher. »Es kann sein, daß deine Absichten lauter waren.«
»Ich weiß doch«, sagte er sanft und ein bißchen beleidigt, »daß ich nicht in diese Welt passe. Was wollt ihr von mir? Soll ich mich mit sechsundfünfzig noch ändern? Ich habe für alle immer nur das Gute gewollt. Die Möglichkeiten für das Gute sind hienieden aber beschränkt. Man muß das Leben verschönern, sonst ist es unerträglich. Deshalb habe ich Éva das vom Ring gesagt. Diese Möglichkeit war für sie in dem Augenblick eine Beruhigung. Deshalb habe ich vor fünfzehn Jahren zu Laci gesagt, ich würde ihm das Geld zurückgeben, obwohl ich wußte, daß ich es nie zurückgeben würde, deshalb habe ich zu den Menschen vieles gesagt, und im Augenblick, da ich sie auf diese Art ermunterte oder beruhigte, war mir schon klar, daß ich mein Wort nie halten würde. Deshalb habe ich zu Vilma gesagt, ich liebe sie.«
»Warum hast du das gesagt?« Ich staunte selbst über meine gleichgültige Stimme.
»Weil sie es gern hörte«, sagte er leichthin. »Weil sie ihr Leben auf dieses Wort gesetzt hatte. Und weil du nicht verhindert hast, daß ich es sage.«
»Ich?« fragte ich, und eine seltsame Befangenheit schnürte mir die Kehle zusammen. »Was hätte ich tun können?«
»Alles, Eszter«, sagte er unschuldig, fast kindlich, mit der Stimme seiner Jugend. »Alles. Warum hast du meine Briefe nicht beantwortet? Warum hast du sie auch später nie erwähnt, als es möglich gewesen wäre? Warum hast du die Briefe bei uns vergessen, als du weggegangen bist? Éva hat sie gefunden.«
Jetzt trat er ganz nahe heran und beugte sich über mich.
»Hast du die Briefe gesehen?« fragte ich.
»Ob ich sie gesehen habe …? Ich verstehe dich nicht, Eszter. Ich habe sie doch selbst geschrieben.«
Ich spürte an seiner Stimme, daß er für einmal, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben, nicht log.
17
»Jetzt laß mich dir etwas erzählen«, sagte er, lehnte sich an die Kommode, zündete eine Zigarette an und warf das Streichholz zerstreut in das Visitenkartenschälchen. »Es ist zwischen uns etwas gewesen, das man mit Schweigen nicht mehr erledigen kann. Man schweigt ein Leben lang über das, was am wichtigsten war. Schweigt manchmal so lange, bis man stirbt. Aber manchmal hat man die Gelegenheit, es auszusprechen … Und da kann man, darf man nicht länger schweigen. Ich glaube, ein solches Schweigen ist die
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