Das Vermächtnis der Wanderhure
wir gerade beim Heiraten sind: Mein alter Timo hat angefragt, ob wir etwas dagegen hätten, wenn aus ihm und Eva ein Paar würde.« Michel blickte Marie fragend an und sah es um ihre Mundwinkel verdächtig zucken.
»Ich hätte nicht gedacht, dass Eva die Sehnsucht nach einem Ehebett packen würde«, antwortete sie mühsam beherrscht.
»Doch wenn sie ihn will, habe ich nichts dagegen.«
»Immerhin hat sie sich hier bei dem guten Essen bei uns auf Kibitzstein gut herausgemacht und scheint doch etwas jünger zu sein, als wir alle angenommen haben. Von Michi habe ich erfahren, dass die Nürnberger Witwe Grete auch nicht hübscher gewesen ist als Eva. Nur verfügt unsere Freundin über ein weitaus sanfteres Gemüt.«
Bei Michis Erwähnung hob Marie fragend den Kopf. »Warum bleibt der Junge eigentlich so lange aus? Seit du ihn gegen Ende des Winters auf Reisen geschickt hast, haben wir nichts mehr von ihm gehört.«
Michel überging Maries Bemerkung und zählte noch weitere alltägliche Dinge auf, die in und um Kibitzstein vorgingen. »Das wird wohl nicht die einzige Heirat bleiben. Gereon schleicht um Beate herum wie ein verliebter Kater, und sie scheint ihn nicht ungern zu sehen.«
Marie hatte mehr und mehr das Gefühl, als weiche er ihr mit Vorbedacht aus, und fragte sich, was er im Schilde führte. Das Muhen eines Ochsen lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Reisezug, der tatsächlich auf Kibitzstein zuhielt und schon so nahe gekommen war, dass sie Einzelheiten erkennen konnte.Es handelte sich nicht um einen Fracht- oder Handelszug, ein solcher hätte nicht ein halbes Dutzend Kühe und eine ganze Schar von Ziegen mit sich geführt. Nun sprengte ein Reiter nach vorne und winkte fröhlich zur Burg hinauf.
»Das ist doch Michi! Aber was …« Was Marie auch hatte sagen wollen, unterblieb, denn sie starrte mit großen Augen auf die hoch gewachsene, füllig gewordene Frau, die auf dem Bock des vorderen Wagens saß.
»Hiltrud kommt uns besuchen! Du hast Michi geschickt, um sie zu holen.« Marie sprang auf und presste die Hände gegen ihre Brust, weil ihr das Herz vor Freude fast zu zerspringen schien.
Michel erhob sich nun ebenfalls und legte ihr den Arm um die Schulter. »Sie kommt uns nicht besuchen, sondern wird bei uns bleiben. Hiltrud erhält einen großen Freihof in unserem Meierdorf, so dass du jeden Tag zu ihr reiten kannst.«
Jetzt stiegen Marie die Tränen in die Augen, und sie schniefte vor Rührung. »Du bist so wunderbar, Michel! Ich kann es kaum fassen, dass ich einen Mann wie dich gefunden habe.«
»Da darfst du nicht mich loben. Der Freihof ist eine Gabe von Schwanhild und Ritter Ingold und war eigentlich als Entschädigung für Mariele gedacht. Da das Mädchen aber kein Interesse daran hat, Bäuerin zu werden, sondern irgendwann einen wohlhabenden Bürger heiraten wird, habe ich Hiltrud fragen lassen, ob sie ihren Hof bei Rheinsobern nicht in Pacht geben und zu uns kommen will. Wie du nun siehst, will sie!«
Michel hatte das letzte Wort noch nicht ausgesprochen, als Marie ihn heftig umarmte und küsste. »Trotzdem bist du der beste Mann auf der Welt!«, rief sie aus. Dann ließ sie ihn los und stürmte die Treppe hinab, um ihrer Freundin entgegenzulaufen.
Historischer Hintergrund
D as vierzehnte und beginnende fünfzehnte Jahrhundert brachte in Europa große Umwälzungen mit sich. Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gelang es nach dem Ende der Staufer keiner Dynastie mehr, die Reichseinheit über die sich immer mehr verselbständigenden Teilstaaten zu behaupten, zumal die sieben Kurfürsten, die das Recht für sich beanspruchten, den Kaiser zu küren, streng darauf achteten, keinen zu mächtigen Herrn auf den Thron Karls des Großen zu setzen.
Wurde einer der Kaiser in ihren Augen zu einer Gefahr für ihre eigenen Interessen, scheuten die Kurfürsten nicht davor zurück, einen Gegenkaiser zu bestimmen. Auf diese Weise kam auch die Dynastie der Luxemburger an die Macht. Allerdings vermochte Karl IV., der Sohn König Johanns von Böhmen, sich erst nach dem Tod Kaiser Ludwigs des Bayern im Reich durchzusetzen. Dabei musste er sich die Unterstützung seiner Parteigänger teuer erkaufen. Seinen Nachfolgern gelang es ebenfalls nicht, die Hausmacht des Hauses Luxemburg entscheidend zu stärken. Erst sein jüngerer Sohn Sigismund schien dazu in der Lage zu sein, er gewann neben der böhmischen auch die ungarische Königskrone für sich. Damit begann sein Dilemma. In Böhmen
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