Das Vermaechtnis des Caravaggio
Erinnerung. Michele war
schon immer zwiegespalten. In der Kunst ein Engel, im wirklichen Leben ein
Teufel.“
Nerina konnte nur bestätigen, was
Mario Minniti aus der kurzen Zeit seines Lebens mit ihm in Rom schloss.
Michele erhob sich wieder und
schlich mit hängenden Schultern auf die Hütte zu, die sich Minniti hier hatte
bauen lassen, um in der Natur zu wohnen, um hier in Ruhe zu malen, und die
Michele und sie bewohnten, seit die Galeere den Hafen verlassen hatte. Seit
seiner Zeit in Sant’Angelo schien allerdings etwas in ihm zerbrochen, schien
seine ganze Lebensenergie einer Müdigkeit gewichen zu sein und einer tiefen
Trauer Platz gemacht zu haben.
„Er hat Schaden genommen.“
Micheles gebeugter Gang erinnerte
sie an ihren Vater, der unter tagelang anhaltenden Attacken tiefster
Verzweiflung gelitten hatte. Im Bett war er dann gelegen, die Augen
geschlossen, nicht ansprechbar, weder für seine Frau noch für seine Kinder, den
Wagen abgedunkelt, als schmerze ihn das Sonnenlicht. Seine einzige Reaktion
bestand in einem fortwährenden Seufzen, das sie damals zu Tränen gereizt hatte.
Gott sei Dank hatte sie eine eher zupackende Natur geerbt, die während dieser
Zeit dafür sorgte, dass die Vorstellungen weiterliefen. Ihr oblag es dann, die
bei ihr in Auftrag gegebenen Plakate zu malen, Neuigkeiten zu sammeln, in
Bilder umzusetzen und Texte dazu zu schreiben, die mit einfachen Melodien
unterlegt waren. Zwar gefiel den Zuhörern ihre dünne Stimme nicht, aber sie musste
billigend in Kauf genommen werden, solange ihr Ziehvater im Bett lag. Und
manchmal geschah es, dass mitten in einer Strophe die kräftige, weittragende
Stimme ihres Vaters einsetzte, dieser sich auf die Bühne stellte und
fortführte, was ihre Ziehmutter und sie begonnen hatten. Immer war ihm der
Applaus der Menge sicher. Die Kunst holte ihn immer wieder aus seiner Düsternis
zurück in die Welt.
„Wenn ihm etwas helfen wird, dann
die Malerei, Nerina. Ich konnte den Senat überzeugen!“ Laut rief er in den
Garten hinein. „Michele! Gute Neuigkeiten!“
Nerina betrachtete Micheles
pausbäckigen Freund von der Seite. Insgeheim bewunderte sie an ihm, dass er so
unverbrüchlich an der Freundschaft mit Michele festhielt. Wohlhabend, dem Essen
und Trinken zugewandt, genoss er in den Künstlerkreisen der Stadt hohes
Ansehen. Einen Flüchtling, vor allem einen, der vor den einflussreichen
Johannitern floh und von ihnen verfolgt wurde, hätte er keineswegs aufnehmen
müssen. Ebenso gut hätte er ihn in ein Schiff setzen und weiterschicken können,
ohne an der Freundschaft zu rühren.
Wenn auch Michele Nerina darauf
vorbereitet hatte, dass Minnitis Werk eher dürftig, seine Fantasie beschränkt
und seine Technik bieder sei, erkannte dieser Michele ohne Neid als das größere
Talent an und freute sich tatsächlich, den Freund aus römischen Tagen bei sich
aufzunehmen, ihm Haus und Unterkunft zu bieten.
Ihre herzliche Aufnahme fand ihren
möglichen Grund in der Tatsache, dass auch Minniti einst aus Rom hatte fliehen
müssen, weil er in einem Duell einen Menschen getötet hatte. Damals hatte ihm
Michele geholfen, die Stadtgrenze zu überqueren und ihn schließlich in ein
Schiff nach Sizilien zu setzen. Jetzt löste er diese Schuld wieder ein und
empfing Michele, wie es ihm gebührte, wie einen Malerfürsten, dessen Ruhm bis
nach Syrakus gedrungen war, nicht wie einen Mörder.
Michele querte einen Olivenhain,
dessen dünne Blätter ein flirrendes Schattenspiel auf seinen Körper zauberten,
stapfte die wenigen Treppenstufen herauf, die in den Garten hinunter führten.
Müde hob er den Kopf und ließ den Blick zwischen Mario und ihr hin und her
wandern.
„Der Senat hat dich beauftragt! Ein
Bild. Das ist besser, als in den Latomien herumzustreunen, auch wenn Vincenzo
Mirabella sicher ein interessanter und gebildeter Mann ist und du uns mit
deiner Entdeckung des jetzt von allen schon so genannten „Ohrs des Dionysos“ in
der Grotte oberhalb der Latomia del Paradiso in Erstaunen versetzt hast. Aber
wir sind Handwerker, Michele, mit Leib und Seele. Wir brauchen den Pinsel
zwischen den Fingern und den Geschmack von Farbpigmenten auf der Zunge.“
Michele lächelte unsicher, und
Nerina glaubte zu sehen, dass er an Mario vorbei auf ein Nest wilder Bienen
blickte, die sich über ihren Köpfen in einem hohlen Stamm eingenistet hatten
und die Luft mit beständigem Summen füllten.
„Wenn die Ritter mich lassen!“
„Michele. Die Stadt zahlt
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