Das Vermaechtnis des Caravaggio
schmalen Standfuß, dann geriet die Tänzerin aus dem
Gleichgewicht und stürzte. Es hätte nur das Ausstrecken eines Armes bedurft,
und sie wäre gerettet gewesen, aber Scipione Borghese zögerte einen Augenblick
zu lange. Hart schlug die Tänzerin auf dem Holz des Tisches auf. In eben dem
Augenblick, als Scipione Borghese dem Pater die Hände auf die Schultern legte,
zerbrach die zarte Verbindung zwischen Fuß und Bodenplatte.
Nichts davon schien Pater Leonardus
zu bemerken. Stumm schüttelte Scipione Borghese den Pater einige Male, bis
dieser sich dagegen wehrte und zwei Schritte zurücktrat.
„Er wird Euch zu erpressen
versuchen, Kardinal. Die Kardinalswürde gegen ein Bild, das unter den Augen des
göttlichen Peter Paul Rubens hat bestehen können.“
„Er soll sich unterstehen!“
„Oh, er wird sich unterstehen,
glaubt mir. Ich befürchte, für Ferdinando Gonzaga ist dieses Bild nur eine
Handelsware.“
Scipione Borghese nickte. Ähnliches
war ihm auch schon durch den Kopf gegangen.
„Beschafft mir ein neues Bild!“
„Aber Caravaggio arbeitet in
Neapel.“
6.
Es gab Tage, an denen für Nerina
Bauchschmerz, Kopfschmerz und Weltschmerz zusammenfielen, und die sie am liebsten
im Bett verbrachte. Die Beine an den Körper gezogen lag sie im Halbschlaf da, genoss
die Wärme unter der Decke und versuchte sich das Ziehen in Kopf und Bauch
wegzudenken. Halb träumte sie von den Erlebnissen der letzten Tage, halb nahm
sie die Geräusche im Haus und im Zimmer nebenan wahr.
Michele malte. Sie hatte ihn
gebeten, keine Besucher zu empfangen und seine Schüler für einige Tage vom
Atelier fernzuhalten, worin er sich widerspruchslos gefügt hatte. Dafür
arbeitete er ohne Unterbrechung an mehreren Bildern gleichzeitig, an den
„Sieben Werken der Barmherzigkeit“ und an seinem Bild ‘Das Haupt des Johannes’.
Beide Gemälde gediehen in einer atemberaubenden Geschwindigkeit. Aber Nerina
wollte jetzt nicht an Michele denken. Am liebsten wäre ihr gewesen, sie hätte
sich zu einer Kugel zusammenrollen und die Welt dabei aussperren können. Nur
für sich da sein, nur sich selbst fühlen, nur im Warmen liegen, als wäre sie
zurückgekehrt in den Schoß der Mutter, ins Urei, aus dem alle Lebewesen
geschlüpft waren seit Anbeginn. Mit geschlossenen Augen versuchte Nerina diesem
Gefühl nachzuspüren und wurde vom langen, schmerzhaften Ziehen im Unterbauch
wieder zurückgeholt. Warum musste sie dies ertragen? Warum konnte man nicht von
diesem Schmerz etwas an andere abgeben?
Jetzt hätte sie am liebsten Enrico
um sich gehabt, aber der hatte sich seit Wochen nicht gemeldet, obwohl sie ihm
eine Nachricht hatte zukommen lassen. Sie überlegte, ob sie sich in ihn hätte
verlieben können, in den Sekretär des Ferdinando Gonzaga, der so besorgt um sie
getan und der sich seit ihrer Flucht nicht mehr gemeldet hatte. Zumindest eine
schriftliche Nachricht hätte sie sich erwartet.
Die Stiche ließen wieder nach. Sie
streckte sich aus, um Arme und Beine zu bewegen und drehte sich auf den Rücken.
Das erste Morgenlicht zeichnete Flecken an die Decke über ihrem Kopf, in denen
sie nach Tiergestalten suchte: Vögel entdeckte sie, ein Pferd und den Kopf
eines Schafes. Unwillkürlich musste sie lächeln.
Wieder schloss sie die Augen. Vor
ihrem Inneren erschien das Gesicht des Fremden, und sie schauderte sofort, als
sie daran dachte, dass er sie auf dem Fischmarkt angesprochen hatte und dann
mit Lena weggegangen war. Spontan griff sie nach ihrem Amulett, das sich kühl
und glatt anfühlte. Was wollte er hier in Neapel? Warum tauchte er in ihrem
Atelier auf? An einen bloßen Zufall mochte sie nicht glauben. Doch welche
Teufelei steckte dahinter? Hinter wem spionierte er her? Hinter ihr oder hinter
Michele? Die Fragen trieben wie loses Gut in ihrem Kopf herum.
Michele kannte den Fremden, den
Johanniter. Aber woher? Warum empfand er Angst? Sie hatte bislang nicht zu
fragen gewagt, schon deshalb, weil das Atelier Tag und Nacht von sogenannten
Schülern belagert wurde.
„Michele?“, rief sie ins Atelier
hinüber, weil von dort Geräusche zu ihr herüber drangen, die besagten, dass
Michele noch arbeitete. Vermutlich hatte er die Nacht bei Kerzenlicht
durchgemalt und korrigierte jetzt Farbfehler, die sich im Dunkeln
eingeschlichen hatten.
„Ja?“, antwortete er kurz.
„Ich habe den Fremden
wiedererkannt!“
Eine kurze Stille trat ein, dann
hörte Nerina, dass Michele die Pinsel beiseitelegte und seine Staffelei an die
Wand
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