Das Vermaechtnis des Caravaggio
rückte.
„Wer war es?“
Nerina schluckte. Sollte sie ihm
die Wahrheit sagen? Zumindest seine Reaktion darauf wollte sie sehen. Sie
wälzte sich daher aus dem Bett, das warme Laken um den Körper geschlungen, und
schob die Tür auf. Ein kurzer Schrei entfuhr ihr, als sich ihr Blick auf die
Wand gegenüber richtete.
„Michele!“, schrie sie.
Vor ihr baute sich die „Enthauptung
des Johannes“ auf. Neben Micheles Kopf, der bereits deutliche Konturen zeigte
und beinahe vollständig porträtiert war, trat ein weiteres Gesicht deutlich
zutage: Der Soldat, der dem Johannes den Kopf abgeschnitten hatte und ihn an
Salome weitergab.
„Das ist er, Michele! Das ist er.“
„Wer?“ Michele schien völlig
unbeteiligt zu sein und warf ein Tuch über das Gemälde.
„Der Fremde“, flüsterte Nerina und
sah Michele ungläubig an. „Woher kennst du ihn?“
Michele räusperte sich, dann sah er
zu Nerina hin, die ihn nicht aus den Augen ließ.
„Ich kenne ihn nicht!“
Alles hatte sie erwartet, aber
nicht das. Sie fühlte, wie sich langsam neue Krämpfe ankündigten. Behutsam
legte sie ihre warme Hand auf den Bauch.
„Warum lügst du, Michele? Du
hattest Angst, als er zu sprechen begann. Ich habe es deutlich gehört. Und außerdem.
Warum wolltest du, dass ich ihn beobachte?“
Ungerührt hantierte Michele weiter,
ihn schienen Nerinas Vorwürfe nicht zu berühren.
„Er kam mir unheimlich vor, gab
sich als Mittelsmann meiner Auftraggeber aus, trug aber nicht das Zeichen der
Bruderschaft.“
„Hast du ihn betrachtet? Mir schien
es, als hättest du es vermieden, ihm in die Augen zu sehen. Trotzdem hast du
ihn ganz offensichtlich erkannt.“
Michele schwieg. Mit einem
unterdrückten Stöhnen krümmte sich Nerina leicht zusammen. Stark und bohrend
fühlte sich die neue Schmerzwelle an, die sie diesmal überfiel.
„Du hast dich geirrt!“, brummte
Michele und sah zum Nagel an der Wand, an dem sein Umhang hing. Nerina verstand
die Geste sehr wohl. Er wollte sich aus dem Staub machen, ihren unbequemen
Fragen aus dem Weg gehen, eine Osteria aufsuchen und in einen Becher Wein
starren. Dort konnte er vergessen.
„Ich habe ihn auch wiedererkannt,
Michele!“
Nerina sah, wie Michele stutzte und
sich zu ihr umdrehte. Ungläubig legte er den Kopf schief.
„Du?“
„Er ist Johanniter. Jedenfalls habe
ich einen Ring mit Zipfelkreuz an seinem Daumen erkannt. Offenbar wohnt er in
einem Ordenshaus hier in Neapel. Dort habe ich ihn zwar hineingehen sehen, herausgekommen
ist er nicht wieder.“
„Was hast du mit den Johannitern zu
schaffen?“
„Nichts, Michele. Sie aber offenbar
mit mir. Der Fremde hat mich auf dem Markt angesprochen, kurz bevor Lena
ertrunken ist. Ihn habe ich auch mit Lena am Arm zum Tiber hinuntergehen sehen.“
Michele machte einen Schritt auf
sie zu, fasste sie am Arm und drückte sie. Blass wirkte er und leicht verstört.
„Du irrst dich!“
„Michele, du tust mir weh.“ Sie
zerrte am Arm. „Nein. Ich irre mich nicht, aber lass mich bitte los.“
„Entschuldige“, murmelte er nur und
begann im Atelier auf und ab zu laufen. Nerina stand unter dem Türbogen, lehnte
sich dagegen und presste die Arme gegen ihren Leib. Sie atmete kurz. So nervös
hatte sie Michele selten gesehen.
„Was weißt du noch über ihn?“, fragte
er sie. Seine Stimme klang besorgt.
Vor dem abgedunkelten Fenster blieb
er stehen, kehrte ihr den Rücken zu.
Nerina, die ihn die ganze Zeit
nicht aus den Augen ließ, überlegte, ob er jetzt durch die Schlitze der Jalousien
nach draußen spähte und nach dem Fremden suchte, der sich möglicherweise in den
Hauseingängen oder Wohnnischen gegenüber verbarg.
„Nichts weiß ich von ihm, außer
das, was ich dir eben gesagt habe. Außerdem vermute ich, dass er es war, der
vor unserer Wohnung in Rom gelauert hat und mir ständig nachgestiegen ist. Darf
ich jetzt fragen, woher du ihn kennst?“
Sie sah, dass Michele langsam den
Kopf auf die Brust sinken ließ und ihn schüttelte.
„Ich weiß nicht, was du damit
meinst!“
Nerina atmete tief durch. Es tat
ihr gut, der Schmerz ließ nach, und für Augenblicke vergaß sie ihn sogar ganz.
Offensichtlich wollte Michele nicht mit der Wahrheit herausrücken, denn dass er
den Fremden nicht kannte und nicht wiedererkannt hatte, glaubte sie ihm nicht
mehr. Dafür versuchte er zu sehr, abzulenken. Sie wusste, dass Michele seit
jeher alle Probleme, die ihn betrafen, auch mit sich selbst ausmachte. Kaum
einmal ließ er sie
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