Das Vermaechtnis des Caravaggio
Entfernung sah, konnte sie durchaus für einen jungen Mann halten.
Erst jetzt nahm sie ihre Umgebung
wieder wahr. Draußen im Atelier entbrannte ein Streit zwischen den Ansichten
über Micheles Naturnachahmung und der Idee eines Bildes, die der Fremde in die
Erläuterungen Micheles eingeworfen hatte. Micheles Stimme hatte ihren
selbstsicheren Ton verloren. Immer wieder räusperte er sich.
„Seid Ihr denn wirklich so naiv, dass
Ihr glaubt, ich wäre blind für die verborgene symbolische Sinngebung, die
meinen Werken innewohnt? Ich sage nur, dass daneben die Augen nicht betrogen
werden dürfen, dass der Betrachter ein Recht darauf hat, die Welt zu sehen, wie
sie ist, auch wenn es sich um Heilige und Apostel handelt. Sind nicht diese
Heiligen auf der Erde gewandelt? Haben sie sich nicht die Füße beschmutzt und
die Hände zerrissen bei ihrer Arbeit, wie wir alle? Warum also sollen wir sie
darstellen, als hätten für sie damals bereits paradiesische Zustände
geherrscht, in denen niemand mehr arbeiten, Leid ertragen oder altern musste? Die
ewige Jugend auf den Bildern der Heiligenmaler – sie verursacht mir Übelkeit.“
In ihren Ohren klang Micheles
Stimme zu zurückhaltend, und sie glaubte, einen hohen hysterischen Ton
herauszuhören.
„Eure Auftraggeber wollen keine
Darstellung nach der Natur, sie wollen ein gottgefälliges Bild. Also stört Euch
nicht an Welten, die nur von Jünglingen, nichts aber von gealterten Heiligen
weiß. Den Abend des Lebens mit seinen Gebrechen kennen wir gut genug, er muss
uns nicht von Euch vor Augen geführt werden. Die Schrecklichkeit des Alltags
ist nicht zu übertreffen – und sie kann in Bildern nicht festgehalten werden.
Das müsstet Ihr, Messer Caravaggio, am besten wissen!“
Durch einen Spalt der Tür spähte
Nerina hinaus und sah, wie der Fremde gestikulierte und Michele theatralisch
den letzten Satz hinwarf.
„Was meint Ihr damit?“ Michele fuhr
auf, und Nerina fühlte, wie sehr er sich beherrschte, um nicht aufzubrausen.
„Denkt nach, Caravaggio!“, war
alles, was der Fremde sagte, dann hörte Nerina das merkwürdige Quietschen
seiner Ledersandalen und das Schlagen der Tür. Aller Augen richteten sich auf
Michele und ein Stimmengewirr brach los. In diesem Augenblick schlüpfte Nerina
aus ihrem Zimmer und eilte zur Tür. Sie öffnete diese leise und befand sich
auch schon auf der Treppe, bevor jemand im Zimmer auf sie aufmerksam wurde. Mit
angehaltenem Atem lauschte sie das Treppenhaus hinab. Die Schritte des Fremden
flogen eilig hinab, als würde er fliehen. Sie folgte ihm.
Seine Rockschöße konnte sie noch
erkennen, als er aus der Tür trat, und auch auf der Straße blieb sie dicht
hinter ihm. Er drehte sich nicht einmal um.
Sie zwängten sich durch die Menge,
die sich in den engen Gassen der Altstadt drängte. Links und rechts hausten
Handwerker in engen, höhlenartigen Zimmern, die nur aus einem einzigen Raum
bestanden und zugleich Arbeitsstelle, Schlafraum und Aufenthalt für die Familie
bildeten. Die Handwerksarbeit fand halb auf der Straße statt, und wer Zeit
hatte, konnte sich zuerst von der Fertigkeit des Handwerkers überzeugen, den er
beauftragen wollte, indem er ihn beobachtete.
Die Gassen selbst herbergten
jeweils einige wenige Gewerbe. So führte der Fremde Nerina durch die Straße der
Muschelschleifer und bog in die der Metallbearbeiter ab. Ein Höllenlärm umgab
sie plötzlich, als sie sich dicht hintereinander dort hineinbegaben. Um sie
herum wurde gepunzt und geschliffen, gedengelt und gebohrt, sodass man glaubte,
den Vorhof der ewigen Verdammnis bereits erreicht zu haben.
Nerina kannte sich noch nicht so
gut in Neapel aus, als dass sie hätte sagen können, wohin der Fremde sie
führte. Plötzlich blieb er stehen, sah zur Höhe eines Kirchturms empor, bog überraschend
im rechten Winkel zur Straße hin ab und betrat eine Kirche, deren Eingang
einige Stufen über dem Straßenniveau lag.
Was wollte der Fremde in einer
Kirche? Sollte sie ihm dort hinein folgen, oder würde ihn ihre Anwesenheit
vielleicht misstrauisch machen?
Nachdem sie sich vergewissert
hatte, dass es nur diesen einen Ausgang gab, beschloss Nerina, auf der
gegenüberliegenden Straßenseite zu warten. Irgendwann musste der Fremde
schließlich die heilige Stätte wieder verlassen.
Karren fuhren an ihr vorüber, auf
denen übermannshoch Möbel gepackt waren, Karren mit irdenen Töpfen und
metallenen Pfannen, alle gezogen von Mensch oder Esel. Einmal furchte ein Wagen
tiefe
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