Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
Es ist ihr Schicksal.«
»Vielleicht ist das alles ja Teil eines großen Ganzen, von dem wir nur die Auswirkungen, aber nicht die Ursachen sehen.«
»Sehr gut, meine Tochter. Auch ich kenne das große Ganze nicht – ich müsste wie ein Adler fliegen, der die Wege der Hasen kennt, aber noch kann ich das nicht. In diesem Moment kann ich nur die Spuren auf der Erde lesen. Aber ich weiß, dass eine Linie von dem Mann ausgegangen ist, für den die Abschrift von Īsās Leben bestimmt ist. In diesem Moment wurde das große Ganze geboren.«
»Und nun haben wir die Pflicht, die Form zu verstehen, nicht wahr?«
»Derjenige, der seine Pflicht erfüllt, bringt den anderen Freude. Wenn alle nach diesem Grundsatz handeln würden, wäre die Welt ein glücklicher Ort. Der edle Giovanni Pico della Mirandola wollte uns sein Geheimnis verraten, bevor er starb. Und kleidete es in eine Aufgabe. Das macht aus uns ein Werkzeug der Glückseligkeit.«
»Bist du dir sicher? Was wir ihnen bringen wollen, könnte möglicherweise nicht erwünscht sein.«
»Das ist wahr, die Gefahr besteht. Aber in der Sprache unserer Vorfahren ist das Symbol für ›Hinterhalt‹ identisch mit dem Symbol für ›Gelegenheit‹. Als Khan Tamerlan mich fragte, ob er seine Eroberungen gen Okzident oder gen Orient richten sollte, habe ich …«
»Khan Tamerlan? Aber er ist doch bereits seit einem Zyklus tot… Ada Ta, das habe ich dich nie gefragt: Wie viele Jahre zählst du wirklich?«
Der Mönch hatte den Standarm gewechselt und drehte seinen Kopf zu Gua Li.
»Als mongolische Banditen meinen Eltern die Kehlen durchschnitten, fing ich an, sie zu zählen. Aber nach der Zahl hundert hörte ich auf.«
Wortlos entfernte sich Gua Li: Soweit sie sich erinnern konnte, hatte Ada Ta sie noch nie belogen.
3
Rom, März 1497
Lucrezia kam atemlos in den Raum gestürzt.
»Vater!«
»Meine Tochter, was bedrückt dich?«
Rodrigo Borgia erhob sich von seiner Gebetsbank und verärgerte damit den Hofmaler Bernardo di Betto, dem er Modell gestanden hatte. Dieser hütete sich jedoch, seinen aufbrausenden Auftraggeber zu ermahnen. Die ganzen Änderungen an seiner Arbeit, die er für vollkommen gehalten hatte, bereiteten dem Künstler nicht wenig Verdruss, aber er konnte sich dem Willen Borgias nicht verweigern.
In der ersten Fassung des Gemäldes war das kleine Mädchen vollkommen, das Giulia Farnese, die offizielle Geliebte des Papstes, diesem zum Segen darbot. Nach einem Streit mit seiner Mätresse hatte Alexander VI. sie aus seinem Bett verbannt und dem Maler befohlen, die Farnese in eine Madonna und ihre Tochter in das Jesuskind zu verwandeln. Außerdem sollte er den militärischen Borgia-Umhang in einen langen päpstlichen Chormantel ummalen.
Mit den Aureolen und dem Chormantel konnte er ja noch leben, aber den rechten Arm des Mädchens zu einer Segensgeste und sogar die Rassel der Infantin in einen goldenen Globus Cruciger zu verwandeln war wirklich zu viel des Guten für den Maler! Die Änderungen ruinierten das Gemälde, und zu allem Übel wusste er nicht einmal, ob sein Auftraggeber ihn je zu bezahlen gedachte. Auf einem wackeligen Schemel im Vorraum des Schlafgemachs balancierend, wartete der Maler geduldig ab. Als der Papst jedoch den Chormantel ablegte, war klar, dass seine Arbeit für heute beendet war.
»Pinturicchio!«
Er hasste diesen Spitznamen, den er seit seiner Jugend innehatte. Er war klein gewachsen, aber »kleines Malerchen« genannt zu werden beleidigte weniger seine Statur als seine Kunst.
»Eure Heiligkeit?«
»Du kannst gehen – Madonna Lucrezia verlangt nach Uns. Du wirst morgen hier erscheinen, zur selben Stunde. Oh, und noch etwas: Bringe es gefälligst rasch zu Ende.«
Bernardo di Betto sammelte seine Farben ein, steckte sich die Pinsel in seinen groben Leinenkittel und stieg vorsichtig vom Schemel. Umständlich räumte er ihn weg und ging dann rückwärts in den angrenzenden Saal, in dem seit den frühen Morgenstunden adlige Römer ausharrten, in der Hoffnung, Bittgesuche einreichen zu können oder Belobigungen zu erhalten. Aus Ärger über den Papst deutete er Kardinal Riario Sansoni della Rovere einen kurzen Gruß an. Der Kardinal war durch seine Verwandtschaft mit dem ihm sehr ergebenen Namensvetter Giuliano, den das Volk fröhlich den Sodomiten nannte, in Misskredit geraten. Natürlich war er nicht der Einzige, der sich am Hofe mit dieser Bezeichnung schmücken konnte. Fünf Jahre zuvor war es eigentlich sein wahres Vergehen
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