Das Vermächtnis des Martí Barbany
fertiggestellten Kerker jenseits der Mauern geschafft, wobei die Richter kaum noch Zeit hätten, die Anklagen zu lesen.
Omar eilte ihm entgegen.
»Herr, Ihr dürft um diese Zeit nicht allein auf den Straßen herumlaufen. Ich habe genug Männer, die Euch begleiten können. Eines schlimmen Tages jagt Ihr uns noch einen Schrecken ein. Es ist gut, wenn man keine Angst hat, aber es ist nicht ratsam, sich unvorsichtig zu verhalten. Ihr habt zu viele Feinde, und Eure besondere Stellung erregt viel Neid. Wenn Euch etwas zustieße, würde sich mehr als einer freuen.«
Martí wehrte die Worte seines treuen Dieners mit einer Geste ab.
»Was ich jetzt am wenigsten brauche, Omar, sind Schauergeschichten. Was gibt es Neues? Wie geht es Ruth?«
»Kapitän Jofre erwartet Euch in Eurem Arbeitszimmer. Was die Dame angeht: Sie verlässt ihr Zimmer nicht und hat das Essen, das Mariona für sie gekocht hatte, nicht einmal angerührt, und dabei waren es ihre Leibgerichte.«
»Ist sie in den Garten gegangen?«
»Kurze Zeit am Abend, zusammen mit Aixa. Doch nicht einmal Aixas Musik kann sie aus ihrer Trübsal reißen. Durch die Türen hört man, wie sie weint.«
Sie kamen zur Tür. Die beiden Männer, die sie bewachten, begrüßten ihren Herrn und folgten ihm auf seinem Spaziergang, während man an den Posten oben auf der Mauer ebenfalls wachsame Schatten erriet.
Sie gingen über den Pferdehof und stiegen die Marmortreppe hoch.
»Um welche Zeit ist Kapitän Jofre gekommen?«
»Sein Schiff hat am Mittag den Anker geworfen. Jemand hat ihm von dem Unglück erzählt, das uns bekümmert, und sobald er damit begonnen hatte, die Fracht aus dem Laderaum zu holen, ist er hergekommen, um Euch unverzüglich sein Beileid auszusprechen und Euch zu unterrichten, was er auf seiner Fahrt erlebt hat.«
»Sag ihm, dass ich gleich zu ihm komme. Zuerst will ich mit Ruth sprechen.«
Martí blieb vor der Zimmertür des Mädchens stehen.
Er klopfte leise. Kleiderrascheln zeigte ihm, dass Ruth vom Bett aufstand, um zur Tür zu gehen.
Ihre Stimme klang gedämpft und heiser vom Weinen.
»Ich brauche nichts, Omar.«
»Ich bin nicht Omar. Ich bin’s, Martí. Seid so gütig, und macht die Tür auf.«
Man hörte kurz, dass Riegel zurückgeschoben wurden, und dann ging die Tür einen Spalt auf. Martí war tief bewegt, als er Ruth erblickte. Eine lose Haarsträhne umrahmte ihr bleiches und abgezehrtes Gesicht, aus dem die vom Weinen geröteten Augen hervorleuchteten.
»Gestattet Ihr?«
Das Mädchen trat beiseite, um ihn durchzulassen.
Kaum war Martí ins Zimmer getreten, da erfasste er die dramatischen Qualen, die das Herz des hilflosen und schwachen Mädchens bedrückten. Er hätte gern sein Leben dafür hingegeben, dass er das geliebte Gesicht in die Hände nehmen und mit Küssen bedecken könnte, doch gerade das durfte er auf keinen Fall tun. Auf der Matratze des hohen Bettes ließ sich noch die warme Vertiefung erkennen, die ihr Körper hinterlassen hatte, und auf dem Tisch stand unangerührt das Tablett, das der Verwalter Andreu Codina aus Marionas Küche hochgebracht hatte.
»Ruth, das darf nicht sein. Seit Freitag habt Ihr keinen Bissen angerührt.«
»Martí, zwingt mich bitte nicht. Ich kann nur noch an meinen Vater denken.«
»Aber Euer Vater hätte gewiss gewollt, dass Ihr etwas esst und nicht verhungert.«
»Wann ist das Begräbnis?«
»Am Freitagnachmittag.«
»Ich will hingehen.«
»Ihr wisst schon, dass es zu gefährlich ist. Ihr dürft nicht …«
»Ich weiß, dass ich nicht zu meinen Leuten, in mein Vaterhaus zurückkehren kann, ohne die anderen zu entehren. Aber nichts hindert mich daran, nach Montjuïc zu gehen, um mich von den sterblichen Resten meines Vaters zu verabschieden.«
»Das ist nicht ratsam: Ihr würdet den Feinden Benvenists einen weiteren Grund liefern, ihre Wut an Euren Leuten auszulassen.«
»Meine Mutter und meine Schwestern werden hingehen. Ich weiß, dass ich ihren Männern nicht willkommen bin, aber darum kümmere ich mich nicht. Ich will meinem Vater den letzten Kuss zuwerfen, selbst wenn es aus der Ferne ist, und vielleicht kann ich die Blätter einer weißen Rose aus dem Rosengarten, den er so sehr geliebt hat, auf seinen Sarg streuen.«
Martí stieß einen tiefen Seufzer aus und stimmte schließlich zu.
»Gut, einverstanden. Ich habe nicht die innere Kraft, um Euch zu verweigern, worum Ihr mich bittet. Aber ich stelle die Bedingung, dass Ihr etwas esst und ausruht.«
»Ich verspreche Euch,
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