Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
offenem Mund. Scheinbar hatte auch er gerade etwas gegessen, doch Everard war sich bitter bewusst, dass es kein hartes Brot und brackiges Wasser gewesen war. In seinen Händen hielt er ein Seil.
»Los, doch. Bewegt Euch, Mann. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«
Everard war verwirrt. »Bin … ich frei?«
Der Woltbote lachte dröhnend auf und hielt sich den Bauch. »Frei? Euch ist das Wasser wohl nicht bekommen! Ich soll Euch die Hände fesseln und Euch ins Rathaus bringen. Und nun macht schon, Gesicht Richtung Wand, und Hände auf den Rücken. Und macht mir ja keine Scherereien, ich habe nämlich auch keine Probleme damit, Euch ohnmächtig ans Ziel zu schaffen.«
Everard verstand sofort und stellte sich umgehend mit dem Gesicht zur Wand. Danach wurde er wie ein Verbrecher von dem Woltboten durch die Stadt gestoßen, bis sie das Rathaus erreichten.
Der prächtige Bau, an dem vor Kurzem noch fleißig gearbeitet worden war, war endlich fertiggestellt, und alle störenden hölzernen Gerüste entfernt. Zu Recht stellte dieses großartige Bauwerk den ganzen Stolz der Hamburger dar. Die wie an einer Perlenkette aufgereihten Zwillingsfenster waren verziert mit Bögen, auf denen ein kleeblattförmiges Steinmuster thronte. Die Außenwände schimmerten durch eine spezielle Behandlung der Steine bläulich und fesselten den Blick jedes Betrachters.
Als Everard sich nur einen Moment lang dem Staunen hingab und seinen Schritt verlangsamte, war die Folge ein grober Stoß in den Rücken, der ihn fast zu Fall brachte. Jeder Protest erstarb, als er das grimmige Gesicht des Mannes sah. So riss er seinen Blick los und durchschritt gemeinsam mit dem Woltboten das links angeordnete Steinportal. Nur wenig später standen sie vor dem hölzernen Gehege, ein mit niedrigen Holzwänden abgetrennter Bereich, der ausschließlich den Herren des Rates zustand. Hier, um den mächtigen Tisch, saßen sie nach der Dauer ihrer Ratszugehörigkeit aufgereiht. An den Kopfenden hatten der Ratsnotar und die beiden Bürgermeister Platz genommen, von denen einer nun das Wort ergriff.
»Lass den Gefangenen eintreten, Woltbote. Du kannst jetzt gehen, deine Dienste werden heute nicht mehr gebraucht.«
Der Woltbote schaute einen Moment lang in Richtung des Bürgermeisters und fragte sich, was genau das heißen sollte, deine Dienste werden heute nicht mehr gebraucht ? Musste der Gefangene denn nicht später wieder abgeholt werden? Er traute sich nicht zu fragen, verbeugte sich schließlich und verließ das Rathaus.
Everard war angespannt. Er blickte in die Gesichter jener Männer, die ihm vor Kurzem noch ihre Bewunderung und Glückwünsche zur Ergreifung der vermeintlichen Hexe ausgesprochen hatten. Henric Longhe, Folpert Krempe, Bertram von Hemechude, Hartwic von Erteneborg … Nun, nach seiner Verhaftung, schauten sie ihn anders an. Nahezu verachtend! Was würde nun mit ihm geschehen? Würde man ihn vielleicht freilassen oder doch vor das Blutgericht des Rates stellen? Er sollte es gleich erfahren.
»Vater Everard«, begann Willekin Aios mit seiner tiefen Stimme zu sprechen. »Tretet näher!«
Everard tat, was ihm aufgetragen wurde.
»Es hat eine Entscheidung über Euer Schicksal gegeben. Nach reiflichen Überlegungen des Rates und einer Entscheidung Graf Gerhards II., die uns heute per Bote erreicht hat, steht nun fest, wie wir mit Euch verfahren werden.«
Der Geistliche trat von einem Bein auf das andere. Er zitterte vor Aufregung und Angst, doch er wollte sich seine Gefühle nicht anmerken lassen. Schließlich war sein Anblick schon schmählich genug.
»Zwar habt Ihr die Dame Runa von Sandstedt zu Unrecht beschuldigt, eine Hexe zu sein, worauf sie festgenommen und in ein Verlies gesperrt wurde, wo sie bei der Geburt ihres Kindes fast starb, doch wir gestehen Euch Folgendes zu: Das vermeintliche Wunder der plötzlich sprechenden stummen Magd, welches schlussendlich als Zustimmung Gottes im Hinblick auf die Verurteilung der Dame gegolten hat, stellte sich als Betrug heraus, der auch Euch nicht bekannt gewesen zu sein scheint. Folglich seid Ihr dieser Betrügerei selbst aufgesessen, was schließlich den Anstoß zu unserer Entscheidung gab.«
Everard hielt die Luft an. Die Worte des Bürgermeisters ließen ihn tatsächlich etwas Hoffnung schöpfen.
Willekin Aios nahm noch einmal den gräflichen Brief zur Hand, überflog die Zeilen und erzeugte dadurch eine furchtbar quälende Pause. Erst nach einer Weile legte er das Pergament wieder vor sich hin
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