Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Tan
Vom Netzwerk:
Chorschülern geöffnet. Gemeinsam betraten die hohen Herren das Langhaus, wo ihre Schritte laut von den Wänden des mächtigen Sakralbaus widerhallten. Das Mittelschiff des Doms war über und über mit hölzernen Baugerüsten vollgestellt. Bereits seit drei Jahren wurde daran gearbeitet, die dreischiffige Emporenbasilika in eine Hallenkirche umzubauen. Dazu mussten die niedrigen Abgrenzungen der Seitenschiffe entfernt und die Fenster dahinter vergrößert werden, um so das Licht ungestört hineinzulassen. Heute jedoch schenkte keiner der Herren den gewaltigen Bauarbeiten Beachtung. Festen Schrittes hielten sie auf das Querhaus zu, wo es zwei Geschosse gab. Den Chorraum in nicht ganz zwei Mannslängen Höhe und die nur mäßig abgesenkte Krypta darunter – das Ziel der Edlen Hamburgs.
    Die Männer schritten durch die oben spitz zulaufenden Steinbögen und betraten die sechsjochige Kryptaanlage. Hier stellten sie sich um die Säulen auf. Alle warteten, noch immer schweigend, darauf, dass das langerwartete Ereignis endlich begann, indem der Erzbischof ein Gebet sprach, auf dass sie Gottes Segen für die Versammlung danach bekamen.
    Als Letzter trat Giselbert von Brunkhorst in die Krypta. Es war nicht zu übersehen, dass er übermäßig festlich gekleidet war, was die Wichtigkeit dieses Tages noch deutlicher machte. Sein eben noch gehetzter Gang wurde deutlich andächtiger, als er die wenigen Stufen hinabstieg. Das unruhige Flattern seines bodenlangen liturgischen Gewandes ließ nach. Während er durch die Männer schritt, griff er sich ans Haupt und rückte seine Mitra zurecht, bis dessen Vorder- und Hinterschild richtig saßen und auch die zwei Bänder, Vittae genannt, gleichmäßig auf seinen Schultern lagen. Danach strich er sich noch über sein Pallium. Das breite wollene Band mit seinen schwarzen Seidenkreuzen darauf lag ringförmig um seine Schultern. Vor der Brust hing das lange Ende des bedeutungsschweren Stoffs bis fast zum Boden. Es war des Bischofs ganzer Stolz, denn es war ihm von Papst Gregor X. selbst in Lyon bei seiner Weihe verliehen worden. Eigentlich trug man es bloß zu hohen christlichen Festen, doch der heutige Tag schien Giselbert wichtig genug. Nun hatte er die Ostwand der Krypta erreicht. Hier, vor den drei rechteckigen Fenstern, die nur spärliches Licht hineinließen, blieb er stehen und wandte sich den Männern zu. Endlich wurde das erste Wort gesprochen.
    »Ihr Edlen Hamburgs!«, begann der Erzbischof und breitete seine Arme aus, auf dass sein Messgewand gleich doppelt so breit wurde. »Heute ist ein entscheidender Tag. Die Bürger der Neu- und Altstadt, die seit einigen Jahren durch Uneinigkeit gespalten sind, sollen sich endlich in Frieden die Hände reichen. Drum lasset uns gemeinsam beten und hier, in Gegenwart der Gebeine der Männer, die sich Hamburgs einst ebenso verdient gemacht haben, um den Beistand unseres Herrn bitten.« Dann hob er die Arme noch höher und drehte die Handflächen zu seinen Zuhörern. »Oremus«, forderte der Kirchenmann die Anwesenden nun zum Beten auf.
    Alle falteten ihre Hände und senkten die Häupter.
    »Misereatur vestri omnipotens Deus, et dimissis peccatis vestris, perducat vos ad vitam aeternam. Indulgentiam, absolutionem et remissionem peccatorum nostrorum tribuat nobis omnipotens et misericors Dominus …«
    Die Worte des Erzbischofs klangen so eindringlich, dass ein jeder zu spüren meinte, wie schwer er an der heutigen Last zu tragen hatte. Niemand beneidete den Geistlichen darum, zwischen den zerstrittenen Lagern schlichten zu müssen. Wohl auch aus diesem Grunde öffnete keiner der Männer die Augen. Jeder strebte Frieden an, und jeder wollte Gott mit aller Inbrunst um Beistand bitten.
    Erst als die Stimme des Erzbischofs nach dem segenspendenden Gebet und einem anschließenden Paternoster verklungen war, begaben sich die Männer wieder hinauf in das Mittelschiff des Doms, um dann den Chorbereich zu betreten. Hier, auf dem verzierten hölzernen Gestühl der Kanoniker, gab es normalerweise eine klare hierarchische Sitzordnung, was schon der treppenartige Aufbau andeutete. Im Osten, auf dem höchsten Platz, hatte eigentlich der Propst als ranghöchster Domherr seinen Sitz. Heute jedoch gebührte dieser Stuhl dem Erzbischof. Ihm gegenüber saß der Domdekan im stallum in choro , der sich diesen Platz an diesem Tage mit dem Domdekan teilte. Das übrige sich gegenüberstehende Chorgestühl wurde sonst den Kapitelmitgliedern entsprechend ihrer Würden

Weitere Kostenlose Bücher