Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
noch sitzen, bis auch der letzte Mann den Dom durch das Portal verlassen hatte. Erst dann ging auch er die Stufen hinab. Langsam, nachdenklich, und froh darüber, dass diese Sitzung vorbei war. Nun konnte er sich wieder jenen weltlichen Dingen widmen, die ihm mehr am Herzen lagen, als das Ausführen des apostolischen Auftrags. Es war kein Geheimnis, dass er am liebsten kriegerische Edelleute im Zaum hielt, Streitigkeiten zwischen Bremen und Hamburg schlichtete oder die weltlichen Güter des Bistums zusammenhielt, etwas, das er auch als bischöflichen Dienst betrachtete, denn schließlich war der Verlust von Kirchenbesitz gleichzusetzen mit dem Verlust von Gottes Eigentum selbst. Die Abhaltung des Gottesdienstes, das Besuchen von christlichen Festen oder das Weihen von Kirchen, gehörten wahrlich nicht zu seinen bevorzugten Aufgaben. Am liebsten hätte er all jene Dinge einem anderen Mann überlassen, so wie er die Verwaltung der Distrikte des Bistums auch seinen Archidiakonen überließ.
Seine Gedanken galten nicht mehr lang den Ratsherren, sondern schweiften ab zu seinem immer wiederkehrenden Problem mit den Kehdingern und den Grafen von Stotel, die ihre Besitzungen in seinem Bistum hatten, und dennoch von Zeit zu Zeit aufbegehrten. Gerade hatte er seine Hände auf seinem Rücken verschränkt, um in dieser Haltung durch den menschenleeren Dom zu schreiten und nachzudenken, als er ein reißendes Geräusch vernahm und zurückgezogen wurde. Noch bevor er hinsah, wusste er Bescheid. Er hatte sich sein festliches Messgewand an einem der groben Baugerüste zerrissen. Ärgerlich machte er den Stoff los. Der Riss war an einer gut sichtbaren Stelle. Selbst wenn der beste Schneider der Stadt sich daran versuchte, würde man das geflickte Stück immer an der Unregelmäßigkeit des aufwändigen Stoffmusters erkennen. Wirklich schade um dieses Gewand, schloss der Erzbischof und merkte nicht, dass sich ihm eine Person näherte.
»Ehrwürdiger Vater, bitte hört mich an.«
Giselbert drehte sich um. Seine Gedanken waren noch ganz bei seinem zerrissenen Gewand. Vor ihm stand eine alte Frau. Sie war klein und dünn. Wirklich überaus unscheinbar. Etwas verwundert fragte er: »Was willst du von mir, Mütterchen?«
Die Frau hielt einen verschlossenen Brief in der Hand und wies darauf.
»Was ist das?«
»Das ist ein Ablass, den ich zugunsten des Umbaus dieses heiligen Doms erworben habe.«
Wieder schaute Giselbert an seinem Mantel herunter und strich verärgert über den Riss. Seine Worte kamen, ohne dass er groß darüber nachdachte. »Das ist sehr großzügig von dir, Mütterchen. Gott betrachtet solcherlei Tun mit Wohlwollen. Nun muss ich aber weiter …« Er wollte sich an ihr vorbeischieben, doch die Alte war noch nicht fertig. Erneut stellte sie sich ihm in den Weg.
»Der Ablass ist verbunden mit einem Beichtbrief. Bitte …«
Giselbert schaute auf die Fremde hinab, die nun keine Handbreit mehr von ihm entfernt stand. Erst jetzt fiel ihm auf, dass ihrer Aussprache etwas Fremdartiges anhaftete. Er kannte diese Art zu sprechen. Sie bereitete ihm Unbehagen. »Dann wurden dir deine Sünden doch schon von einem Geistlichen erlassen. Was willst du noch von mir? Ich bin …«
»Ich weiß, wer Ihr seid, Erzbischof!«, sagte die Frau plötzlich mit einer unerwartet starken Stimme.
Erstaunt schwieg Giselbert und hörte zu.
»Die Sünde in meinem Herzen ist so groß, dass ich Euch, den höchsten Kirchenfürsten im Lande, zusätzlich aufsuchen wollte. Meine Zeit auf Erden ist bald zu Ende, und ich bin von weit hergereist, um meinen vollkommenen Ablass und meine Beichte bei Euch zu hinterlassen. Wenn ich sterbe, soll meine bescheidene Habe in den Besitz der Kirche übergehen. Es steht alles hier geschrieben.«
»Gut, gut!«, gab sich Giselbert nun geschlagen. »Gebt den Brief schon her.« Der Erzbischof rang sich ein Lächeln ab. Er wollte endlich wieder allein sein, und wenn es die alte Frau glücklich machte, dass er ihren Ablass zu all den anderen legte, die sich im Dom stapelten, dann bitte. Gerade wollte er sich wieder abwenden, als sie ihn am Arm festhielt.
»Was ist mit meiner Beichte? Bin ich jetzt frei von meinen Sünden? Ich muss es wissen, bevor ich diese Welt verlasse.«
Seiner Verwunderung zum Trotz, schlug der Kirchenmann ein großzügiges Kreuz vor der hartnäckigen Frau und sagte, »Dein Ablass ist Beichte genug. Hiermit bist du befreit von deinen Sünden und ebenso rein wie jede Jungfrau und jedes Kind.«
Erst
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