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Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Tan
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hatte. Nachdem die letzten Jahre geprägt waren von ihrer inneren Zerrissenheit zwischen der Liebe des einen Mannes und der ehelichen Verpflichtung gegenüber dem anderen, war ihr Blick heute wieder geschärft und ihr Herz gegenüber Walther rein. Johann Schinkel würde als Vater ihres Erstgeborenen zwar für alle Zeit einen Platz in ihren Gedanken haben, doch die brennende Liebe, die sie einst für ihn empfunden hatte, war endlich erloschen und die Bürde, die dadurch entstanden war, endlich abgeschüttelt. Heute liebte sie Walther, und er liebte sie – wie er es ohnehin seit eh und je getan hatte.
    Noch immer ruhten Walthers Augen auf Runa, doch an seinem sich langsam verändernden Ausdruck konnte sie erkennen, dass nun der schmeichelnde Minnesänger verschwand und wieder ihr Gemahl vor ihr stand. Weniger süßredend, aber nicht weniger liebevoll fragte er sie: »Wo bist du gewesen, Liebste? Die Kämpfe haben längst begonnen.«
    »Ich muss wohl die Zeit vergessen haben …«, log sie, ohne rot zu werden. Die Wahrheit allerdings war, dass sie sich einfach nicht hatte entscheiden können, welches ihrer Kleider sie heute tragen wollte. Immer wieder musste die Magd ihr die Schnüre festziehen, nur um sie dann wieder zu öffnen und ihr aus dem Kleid zu helfen. Erst nach dem dritten Versuch war sie endlich mit ihrer Wahl zufrieden gewesen. Die Entscheidung war auf ein hellblaues Untergewand mit einer dunkelblauen verzierten Cotte darüber gefallen, die in der Taille von einem überlangen Gürtel gehalten wurde. Da es an diesem Morgen noch kühl war, hatte sie sich außerdem einen roten pelzgefütterten Surkot über die Schultern gelegt, dessen großzügig bemessenes Ende auf dem Boden schleifte. Ihr Haar war geflochten und unter einem Schleier mit kunstvollem Gebende versteckt. Runa fühlte sich wunderschön und begehrenswert, doch war sie sich gerade selbst nicht mehr sicher, ob dies der feinen Kleidung oder den Worten ihres Gemahls geschuldet war.
    »Lass uns gehen, Runa, den ersten Buhurt haben wir schon verpasst, aber das Tjosten müssen wir sehen.« Walther bot seiner Frau den Arm, und sie hakte sich unter. In diesem Moment ertönten auch schon laut die Trommeln und Trompeten vom Festplatz her, die das nächste Spiel ankündigten. Jubel war zu hören. Die Kieler konnten es nicht erwarten, den teils sehr weitgereisten Rittern beim Kräftemessen zuzusehen.
    Seite an Seite verließen sie die Enge des Burghofs, doch sie kamen nicht weit. Als hätten sie sich abgesprochen, hielten beide bei dem Anblick, der sich ihnen von der nordöstlichen Erhebung aus bot, auf der die Burg stand, inne. Kiel lag nun vor ihnen. Es wirkte verschlafen, doch waren bloß die meisten Bürger schon beim Turnier.
    Walther schaute die Burgstraße hinab, die geradewegs durch bis hin zum Marktplatz zur erhöhten Nikolaikirche führte. An normalen Tagen ging es hier zu dieser frühen Stunde schon sehr geschäftig zu – nicht so heute. Er sah das Rathaus, das Franziskanerkloster, den Hafen und natürlich das alles umgebende glitzernde Wasser, welches die fast runde Halbinsel so gut wie gänzlich umschloss. Als seine Augen aber Runa erfassten, verlor der Anblick der morgendlich schönen Stadt ihren Glanz.
    Wie sehr er seine Gemahlin doch begehrte. Nichts hatte sich seit dem Tage ihrer Vermählung daran geändert. Nur einen einzigen Unterschied gab es heute – dass sie seine Liebe nun endlich auch erwiderte. Johann Schinkel gehörte der Vergangenheit an, und auch wenn ein kleiner unschuldiger Junge nun darunter leiden musste, dass sie beide jetzt glücklich waren, Walther war es das wert gewesen!
    Entschlossen zog er Runa nun weiter – der Weg zum Festplatz war nicht weit. Sie wandten sich einmal nach rechts auf die Dänische Straße und noch ein zweites Mal, bis sie auf dem einzigen Zugang Kiels auf dem Landwege waren, wo die Feierlichkeiten stattfanden. Schon von hier waren die Ausmaße des Spektakels sichtbar. Dicht an dicht standen die weißen Getelde, die Zelte der Ritter, geschmückt mit farbenfrohen Bannern davor, auf denen die Wappen der Sippen zu erkennen waren. Seit einer Woche schon reisten die Kämpfer mit ihren Gefolgen an. Sie waren den Ankündigungen der Boten Graf Johanns II. gefolgt, die vor vier Wochen durchs Land geritten waren, um von dem Turnier zu verkünden. Mit der Versicherung des freien Geleits bis nach Kiel waren so viele gekommen, dass manche von ihnen gar auf die Wiesen weit außerhalb hatten ausweichen müssen. Nun

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