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Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tamar Yellin
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Augen zu sehen (Haar und Arme nicht bedeckt, den Kopf voller sündiger Gedanken, im Bauch eine Mischung aus Milch und Fleisch), aber auch, weil er mit seinem Starren einen bestimmten Zweck zu verfolgen schien, etwas Finsteres oder auch nicht, und indem
ich den Blick erwiderte, fürchtete ich, die Schleusen seiner Absichten geöffnet zu haben. Ich rechnete jeden Moment damit, dass er zu mir herüberkam.
    Das Wasser lief über den Rand des ausgetrockneten Pflanzkübels und auf den Boden. Als ich wieder aufsah, war der Mann verschwunden.
    Auf dem Platz war nichts von ihm zu sehen, auch nicht auf der Straße oder zwischen den verbeulten Autos auf dem Gehweg. Ich lief auf die andere Seite des Hauses. Dort war niemand. Nur eine streunende Katze, die sich unter den Zypressen sonnte. Als ich kam, sprang sie nervös davon.
    Später, bei einer Schale schwarzer Oliven in der Küche, zuckte Saul wieder die Achseln. »Was meinst du denn? Er wird hinter dem Kodex her sein.«
    »Hinterher sein? Wie meinst du das?«
    Er zog böse die Augenbrauen hoch und lachte. Saul hatte nie viel gelacht: Dies war ein kleines, bitteres, bissiges Glucksen, tief hinten in seiner Kehle, und er sah mich auf eine Weise von der Seite an, die mich merkwürdig an unseren Fremden im Kaftan erinnerte. Als wisse er etwas, das er mir nicht sagen wollte.
    Am Abend zuvor hatte er mir, beim Rascheln des Laubs und dem Maunzen der Katzen draußen, im Halbdunkel des verlassenen Wohnzimmers so viel über das allgemeine Objekt der Begierde erzählt, wie er zu erzählen bereit gewesen war. Er hatte es natürlich selbst gefunden; was es allerdings nicht zu seinem Eigentum machte. Aber irgendetwas, nicht wahr, gebührte doch auch dem Finder? Umso ärgerlicher, wenn es einem dann aus der Hand genommen wurde, wenn es vom übereifrigen Bruder in Sicherheitsverwahrung gegeben wurde. »Dieser Cobby! Immer alles nach Vorschrift!«, fauchte Saul gereizt. Der Kodex lag jetzt im Archiv des Ben-Or-Instituts, wo man ihn nur mit ausdrücklicher Erlaubnis
besichtigen durfte, bis die Familie entschieden hatte, was damit zu tun sei. Aber erst nachdem Cobby ihn auf seine unschuldige und freundliche und unbedachte Art kostenlos und gratis dem Volk angeboten und dadurch die Toten und Fast-Toten geweckt hatte, die Schläfrigen, die Beleidigten und die Enteigneten, also den ganzen uralten Leviathan der Familie Shepher.
    »Aber was genau ist denn - der Kodex? Wie ist er?«
    »Was willst du wissen? Es ist eine Bibel - eine Keter Torah . Weißt du, was eine Keter Torah ist? Eine Torah-Krone. Eine Handschrift.«
    »Ja«, sagte ich, »natürlich weiß ich, was eine Keter Torah ist. Aber wo kommt sie her - woher stammt sie?«
    Saul zog eine Grimasse. »Wer weiß? Sie muss schon Jahre da oben gelegen haben. Dein Großvater hat nichts davon gewusst, so viel ist sicher.« Er machte eine große Geste über all den Plunder, als sei die Herkunft des Kodex dort irgendwo eingeschrieben, so wie sich aus dicken Schichten von Sedimentgestein plötzlich Fossilien herausschälen. Und er zog die Schultern hoch auf diese verschlossene, defensive, für meine Familie ganz typische Weise.
    Dieses Haus barg genügend Geheimnisse, dachte ich, als ich durch die kühlen Räume wanderte, hier über versteckte Kartons stolperte, dort gegen Wäschestapel lief. Blasse Möbelgeister, die von Laken bedeckt im fahlen Licht von Vierzig-Watt-Birnen standen. Man konnte alles Mögliche finden: In diesen chaotischen Überbleibseln lag eine ganze Geschichte begraben. Und die Geschichte war zerbrechlich, niemand wusste das besser als ich. Eine kurze Laune des Schicksals konnte sie in Asche verwandeln.
    Zwanzig Jahre zuvor, unmittelbar nach der Beerdigung meiner Mutter, war ich in das große Haus zurückgekehrt, in dem wir die letzten fünf Jahre gemeinsam verbracht hatten,
und hatte alles, was ihr gehörte, aussortiert. Ich räumte die Regale frei und leerte alle Schränke. Ich putzte Kleiderschränke und weidete Schubladen aus. Nichts blieb: Kein Fädchen wurde verschont.
    Ich rief meinen Bruder an und fragte ihn, ob es ihm etwas ausmache, wenn ich die Sachen entsorgte. Seine Antwort war unmissverständlich: »Was zum Teufel soll ich mit dem Zeug?«
    Und so machte ich mich an die Arbeit und schaffte alles fort. Ich brachte Kleider und Schuhe zum Secondhand-Laden, Möbel und andere Gegenstände ins Auktionshaus. Stück für Stück rangierte ich unsere Kindheit aus. Die Vergangenheit war nichts als ein Haufen Nippes.
    Dann häufte

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