Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
auszutreiben. Er faltete die Zettel klein zusammen und versiegelte sie in Amuletten an Bindfäden. Sie wurden so beliebt, dass er schon bald kein Pergament mehr hatte, und in der Hajehudim-Straße war kaum noch welches zu bekommen. Eines Abends stand Reb Jakob, der Altkleiderhändler, vor seiner Tür. Er kam gerade von einer Beerdigung und hatte sein Amulett im Badehaus verloren. Shalom Shepher tat es leid, aber er konnte ihm nicht helfen. Es gab kein Fitzelchen Pergament mehr. Er wollte morgens gleich als Erstes losgehen und welches kaufen, eine Beschwörung schreiben
und sie persönlich vorbeibringen. Reb Jakob verschwand mit einem Schrei der Verzweiflung in die Nacht. Am nächsten Morgen eilte mein Urgroßvater mit dem Amulett in der Hand zu seinem Haus, wo der Trauerzug für den alten Herrn gerade aufbrach.
Shalom Shepher war am Boden zerstört, weil er es nicht geschafft hatte, seinen Freund zu retten. Die Cholera ergriff ihre Chance. In der Regel verlief die Krankheit in drei Phasen: Erbrechen, Durchfall, Krämpfe; hatten die Krämpfe einmal begonnen, gab es keine Hoffnung mehr auf Genesung. Mein Urgroßvater hatte das Erbrechen, hatte den Durchfall, aber keine Krämpfe und erholte sich wieder. Das war seine zweite Auferstehung von einer gefährlichen Krankheit.
Die Überlieferung will es, dass der Essig ihm das Leben gerettet hat und dass es seine Frau gewesen sei, Batsheva, und nicht die Dienste der Einreiber oder die Bemühungen des deutschen Arztes, die ihn durchbrachten. Sein Dickkopf muss ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Batsheva jedenfalls hatte Wache gehalten. Sie ließ die todbringenden Einreiber nicht in seine Nähe. Kein ärztlicher Giftmischer betrat das Haus. Sie kümmerte sich persönlich um den Fall und heilte ihren Mann; natürlich nicht aus Zuneigung, sondern aus reiner Entschlossenheit, sich nicht geschlagen zu geben, und um zu beweisen, was ihre Hausmittel zu leisten vermochten.
Drei Tage lang lag er in Quarantäne hinter dem in Essig getränkten Vorhang. Niemand außer Batsheva durfte daran vorbei. »Nicht, dass du nicht die beste Krankenschwester für ihn wärst«, druckste Isaak Raphaelovitch, »und nicht, dass du nicht seine Frau wärst. Aber vielleicht wäre es doch besser, ihn ins Rothschild-Krankenhaus zu bringen.« Batsheva reagierte auf seinen Vorschlag, wie sie auf alle Äußerungen ihres Vaters reagierte: mit selbstbewusster Verachtung. »Vielleicht
wäre es besser, ich bringe ihn gleich um«, sagte sie, »denn wenn er die Cholera nicht hatte, bevor er da hinging, dann hat er sie bestimmt, wenn er wieder rauskommt.« Und sie fegte hinter den Vorhang und ließ den alten Mann ernsthaft an ihren Absichten zweifeln.
In dieser Nacht schlief er auf dem Küchenfußboden, während Batsheva sich um den Kranken kümmerte. Nicht einen Augenblick lang fürchtete sie, ihren Patienten zu verlieren. Nicht einen Augenblick lang glaubte mein Urgroßvater, er würde sterben. »Außer vielleicht«, witzelte er später, »am Essiggeruch.« Er machte sich nicht die Mühe zu erzählen, wie weit er in diesen drei Tagen des Kampfs und des Leidens gereist war, als das Gesicht seiner Frau, wenn sie sich über sein Bett beugte, gelegentlich auf höchst unwahrscheinliche Weise in eine Vision von Engeln überging. Batsheva hatte ihre eigenen Umschläge und Medikamente, ihre eigenen geheimen Tricks und Beschwörungen. Reb Shalom war entschlossen zu leben, und außerdem wusste er, dass es nicht die Cholera war, sondern eine große spirituelle Sehnsucht, die ihn heimsuchte.
In der Zwischenzeit lag Isaak Raphaelovitch wach und malte sich verschiedene Katastrophenszenarios aus. Sein Schwiegersohn würde sterben, seine Tochter würde sich mit der Cholera anstecken und ebenfalls dahinscheiden. Er allein bliebe übrig, um sich um die Kinder zu kümmern. »Herr der Welten«, betete er, »gib mir ein Grab und ein Leichentuch! Es ist besser für mich, jetzt zu sterben, als diese Kleinen ohne Beschützer aufwachsen zu sehen.«
In der Morgendämmerung des dritten Tages kam Batsheva in die Küche und weckte ihren Vater. »Er ist übern Berg«, sagte sie. »Er wird wieder gesund.« Ihr Gesichtsausdruck war dabei so finster, dass man hätte glauben können, ihr Mann sei gestorben.
Die Nachricht von Shalom Shephers wundersamer Heilung verbreitete sich schnell. Schon bald stieg die Nachfrage nach Essig und anderen Einreibemitteln aus dem Haus mit der Hand, und Batsheva, die keine Skrupel hatte, Profit aus der
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