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Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tamar Yellin
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meiner Familie auf meinem eigenen Gesicht plötzlich deutlicher wahrnahm. Wie Felsen im Meer, die nur bei Ebbe sichtbar waren, sah ich sie im Spiegel: meine Shepher-Augen, meine Shepher-Nase, meinen Shepher-Mund.
    Ich konnte nicht mit Saul sprechen, ohne wie ein quälendes Echo meine eigene Shepher-Stimme zu hören.

    Ich hatte instinktiv dagegen angekämpft, gegen diese Zugehörigkeit zu einem Typus, einer Gruppe. Wie jeder andere auch hatte ich einzigartig sein wollen. Besuchte ich meinen Bruder Reuben deswegen so selten? Ich wusste, dass es ihn ebenfalls beschäftigte, dass er es nicht mochte. Wenn wir einander an seinem Esstisch gegenübersaßen, lachten wir auf die gleiche Weise und erwischten uns bei den gleichen Gesten.
    Zwanzig Jahre lang war ich ohne Verankerung umhergetrieben und hatte mich stolz nach meinem eigenen Bild geschaffen. Und jetzt war ich wieder hier im Haus der Familie: Ich schaute in den Spiegel und sah eine Shepher.
    Den ganzen Vormittag über hatte ich auf dem luftlosen Dachboden gekauert und in Dokumenten geblättert, bis meine Hände schwarz waren vom Staub und mir der Kopf schwirrte. Nachmittags musste ich einfach mal raus. Ich nahm den ersten Bus in die Stadt, und kaum war ich angekommen, öffnete der Himmel seine Schleusen. Ich stieg auf halber Strecke der Jaffa-Straße aus. Sie war so schmal, heruntergekommen und kolonial, wie ich sie in Erinnerung hatte, vom Verkehr verstopft wie eh und je, und an den Straßenecken hatten sich große Pfützen gebildet. Jerusalem war so melancholisch wie immer.
    Die Geschäfte hatten sich verändert, aber die Atmosphäre nicht. Dagegen kamen auch die Einkaufszentren nicht an. Auf dem Weg durch Mea Shearim stieß ich beinahe mit einem Talmud-Studenten zusammen, der aus der Jeschiwa gestürmt kam, eine Plastiktüte über den Strejml gestülpt. Er stürzte ohne eine Entschuldigung weiter und ließ einen Geruch nach Stärke und Schweiß zurück. Ich platschte durch die überfluteten Straßen, schaute in Fenster und offene Türen und erhaschte kurze Blicke auf das religiöse Leben: eine Frau mit Kopftuch, eine Gruppe von Kindern mit Schläfenlocken,
ein hell erleuchtetes Lehrhaus. Ich fragte mich, was sie wohl denken würden, wenn sie wüssten, was ich wusste. Ob ihnen bewusst war, dass auch ich mich in der Religion auskannte. Hatten sie die gleichen Sehnsüchte, den gleichen Hunger, zogen sie ihr Leben je in Zweifel, stellten sie Fragen?
    Ich fand meine Bushaltestelle nicht und ging den größten Teil des Wegs zu Fuß zurück nach Kiriat Shoshan, an befahrenen Hauptstraßen entlang, die nicht für Fußgänger gedacht waren. Verärgerte, ungeduldige Fahrer hupten mich an. Meine Kleider waren klatschnass, aber als ich beim Haus ankam, war ich immer noch unruhig. Ich lief weiter unter den Straßenlaternen umher, bis die Dunkelheit dichter wurde und mich Müdigkeit überkam. Als ich ins Haus schlüpfte, hatte ich den Eindruck, ich hätte jemanden im Schutz des Oleanders stehen sehen. Aber als ich aus dem Fenster schaute, war alles still und ruhig, niemand war zu sehen. Ich musste es mir eingebildet haben.

Viertes Kapitel
     
    Als Kinder hatten wir die Sommerferien im Haus meines Großvaters verbracht, in Jerusalem, in Kiriat Shoshan. Es war ein alter Bungalow an der Ecke eines Platzes, der von Pfefferbäumen gesäumt war, in einem Garten mit Kakteen und Sukkulenten neben dem Weg, der einmal nach Deir Yassin geführt hatte.
    Der Platz war ruhig, in der Luft lag der scharfe Duft der Pfefferbäume, und wir spielten nachmittags draußen. Hinter dem Haus lag ein großes, unbebautes Stück Land, das wegen eines Rechenfehlers oder einer baulichen Verzögerung nie genutzt worden war. Es war die zerklüftete Seite eines judäischen
Hügels, voller großer, weißer Felsbrocken und mit Dornengestrüpp bedeckt wie mit einem natürlichen Stacheldraht. Es war gefährlich, mit Sandalen dort herumzulaufen, und es wimmelte von Heuschrecken, Eidechsen und Käfern, fremdartigen großen Marienkäfern und Ameisenhügeln, die man stundenlang beobachten konnte, Spritzgurken mit herabhängenden, grünen Schoten, die explodierten, wenn man mit einem Stock darüberfuhr, und seltenen, amethystfarbenen Passionsblumen an den Felsen. Wenn man die Blütenblätter abzupfte und die Staubblätter freilegte, schmeckten sie besser als Honig.
    Mein Großvater baute das Haus in Kiriat Shoshan 1927, und es sollte fast siebzig Jahre stehen. Er half das Fundament zu legen und deckte das Dach mit

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