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Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tamar Yellin
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wir nie entschlüsselt haben.
    Nach der Zerstörung des chasarischen Königreichs flohen wir nach Norden, nach Russland und von dort aus in westliche Richtung nach Litauen und ließen uns in der Gegend von Grodno nieder. Dreihundert Jahre später wurden die jüdischen Gelehrten aus Bayern nach Osten vertrieben. 1357 heiratete Rivka, die Tochter eines Bamberger Rabbiners, Uziel, den Sohn Isaaks, eines Tuchhändlers, und der
Zweig der Gelehrten und der Zweig der Händler wurden für immer miteinander vereint.
    Danach finden wir in den sagenhaften Annalen Simeon, der mit Amuletten und medizinischen Kräutern handelte; Tirzah, den Autor von »Andachtslieder für Mädchen und Frauen«; Arie Leib, der dem falschen Messias, Shabbatai Zvi, folgte; und Shlomo aus Skidel, alias der Pedant, der ein hundertsiebenundneunzig Seiten langes Traktat über einen einzigen Torah-Vers schrieb.
    Und wir wollen Zvi Hirsch nicht vergessen, der im achtzehnten Jahrhundert wegen Pferdediebstahls gehängt wurde. Es mag schwer zu glauben sein, aber selbst eine Familie von Talmudisten braucht ihre Verbrecher.
    Der bemerkenswerteste unserer Vorfahren war vielleicht Reb Isaak aus Skidel, von dem es heißt, die Intensität seiner Gedanken beim Studieren habe die Vögel, die über ihn hinwegflogen, auf der Stelle verbrannt.
    Wohin es uns auch verschlug, vermehrten wir uns, teilweise durch naturgegebene Fruchtbarkeit, teilweise weil wir dem rabbinischen Diktum Folge leisteten, dass »ein Mensch ohne Kind als tot gilt«. Da die Kinder der Shephers normalerweise in großer Zahl überlebten, mussten die Eltern ihr Einkommen auf unterschiedlichste Arten aufbessern; indem sie beispielsweise Wäsche annahmen oder an Schulen unterrichteten; als Mehl- und Kleinwarenhändler; als Barbiere und Uhrmacher; als Verkäufer von Nähmaschinen und in einem Fall als Totengräber
    Niemand in unserer Familie ist reich. Eine entfernte Cousine in einem der Zweige, mit denen wir nicht sprechen, soll einen Millionär geheiratet haben; aber das ist vermutlich eine missgünstige Übertreibung. Kein Shepher hat je ein florierendes Geschäft geführt oder auf dem Immobilienmarkt Gewinne erzielt oder profitablen Handel betrieben
oder im Lotto gewonnen. Im Gegenteil, es werden zahllose Geschichten von verpassten Chancen, verpatzten Geschäftsabschlüssen und Katastrophen erzählt. Wären die nicht gewesen, wären wir inzwischen reicher als die Rothschilds.
    Über unsere Armut sind wir uns größtenteils einig. Über die typische Shepher-Erscheinung hingegen gibt es erbitterte Kämpfe. Manche streiten ab, dass es etwas wie ein Shepher-Aussehen gebe. Andere wollen eine Shepher-Nase und einen Shepher-Mund erkennen, selbst einen Shepher-Gang. Ich selbst wäre die Letzte, die ein spezielles Shepher-Lachen leugnen würde. Manche von uns schimpfen über den Fluch der Shepher-Zähne, die krumm und schief wachsen und schnell faulen. Die moderne Zahnmedizin hat mich vor diesem Erbe verschont, aber für die familiären Verdauungsprobleme ist noch keine Heilung gefunden. Seit unserer Umsiedlung in den Osten hatten wir immer wieder mit Hautkrebs zu tun. Aber insgesamt leiden wir unter chronischen Zipperlein und leben lange. Und wir pflegen eine edle Tradition der Hypochondrie. Ich las einmal über Charcots »Juif Errant«, der sich, obwohl verarmt und notleidend, dennoch von Polen nach Paris durchkämpfte, um dort wegen eines eingebildeten Gebrechens einen berühmten Arzt aufzusuchen. Der Name dieses Mannes war zweifellos Shepher.
    Tatsächlich wird die Frage der Familienmerkmale nie abschließend gelöst werden, denn zu jedem Beispiel gibt es eine Ausnahme. Andererseits weiß man, wenn einem ein Shepher begegnet, dass es sich nur um einen Shepher handeln kann. Es ist etwas Undefinierbares, und ich muss sagen, es bringt mich ins Schwitzen. Es macht mich aber auch schrecklich glücklich. Man glaubt gar nicht, wo es einem überall passieren kann. Mein Cousin Itai traf auf einer Rucksackreise im Himalaja jemanden namens Pedro; er trug ein Kruzifix, aber seine Vorfahren waren Juden. Mir selbst klopfte einmal in
einer Vorlesung das Herz, weil der Professor eindeutig einer von uns war. Vor einigen Jahren rief ein Unbekannter mit dem Namen Shepher meinen Bruder an, aber mein Bruder wollte nichts davon wissen; die Stimme am anderen Ende der Leitung ähnelte der meines Vaters zu sehr. Leute, die wie Shephers aussehen, wurden in so weit entfernten Städten wie Reykjavik und Delhi, Neapel und Shanghai

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