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Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tamar Yellin
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zusammengekauert zwischen stinkenden Lappen und Besen im hinteren Flur und schlurfte vielleicht hinter der Tür des Ballebejssl herum, zusammen mit Schlangen und Kakerlaken und Vorwürfen, Tod und Schulden und geschäftlichen Fehlentscheidungen und all den damals noch namenlosen Ängsten, die in den Tiefen meines Bewusstseins lauerten. Meine Tante Shoshanah saß am Küchentisch, beobachtete mich beim Lesen und sagte: »Wir Shephers. Wir alle lieben Bücher, tragen Brillen und werden Lehrer.«
    Mein Vater sagte: »Shula wird Sängerin.«
    Aber die Jahre vergingen, und mein Vater starb. Ich liebte Bücher weiterhin, bekam eine Brille und wurde Lehrerin. Die Stimme erstarb mir in der Kehle, und ich hörte auf zu singen. Das Familienschicksal ereilte mich ohne mein Zutun.
    Jetzt, in diesen letzten Tagen, stand die Tür zum Zimmer des Ballebejssl weit offen. Seine Fensterläden waren weg. Tageslicht fiel hinein. Bald würden seine Wände zerschlagen, die Decke aufgerissen werden. Seine Geheimnisse würden wegfliegen in alle vier Himmelsrichtungen. Ich stand in seiner leeren Hülle und stellte fest, dass es keine Geheimnisse barg, dass die Ängste, die es in mir verursacht hatte, so substanzlos waren wie Geister. Hirngespinste eines kleinen Mädchens.

Fünftes Kapitel
     
    »Nu - erzähl mal, Shula. Singst du noch?«
    Ich betrachtete den trockenen Kuchen auf dem Teller vor mir. Zwei dicke Scheiben, Schokolade und Zitrone, und eine Tasse blasser, schwacher Tee. Daneben ein Fingerhut trockener Sherry.
    »Nein. Ich singe nicht mehr.«
    Neben dem Sherry ein Teller mit Melonenstücken, einige Stückchen Strudel, eine Glasschale mit Pistazien. Onkel Cobby schälte sich mit zitternden Fingern eine. Er war sehr gealtert, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte. Er war ein alter Mann. Sein Körper war eingefallen, krumm; sein Haar, das einmal grau gewesen war, war nun silberweiß. Als ich ihn in den Arm nahm, spürte ich seine Wirbelsäule, sein Skelett.
    »Wie schade.« Tante Fania erschien aus der Küche wie eine Zauberin, mit einem Zweig Weintrauben in der Hand. »Wir haben immer gedacht, du wirst mal eine berühmte Sängerin.«
    Ich trank versehentlich den Sherry und zuckte zusammen. Vielleicht war das gar kein Sherry. Vielleicht war es süßer Dessertwein, der schlecht geworden war. »Meine Stimme war zu schwach«, erklärte ich. »Ich hatte nicht genug Kraft.«
    »Unsinn!«, erklärten Fania und Cobby unisono.
    Hier saß ich also wieder, in ihrer verfallenden Wohnung in einem westlichen Vorort Jerusalems, wo sie schon wohnten, seit ich denken konnte und wo ihr Name neben dem Klingelschild im Lauf der Jahre verblasst war. Ich war die dunklen, nach Stein riechenden Stufen mit dem seltsamen Gefühl hinaufgestiegen, zurückgeworfen zu sein in meine früheste Kindheit. Das rostige Treppengeländer unter
meiner Hand, die braune, zur Hälfte gekachelte Wand mit den roten Sicherheitslämpchen auf jeder Etage waren so vertraut, so lang vergessen, als befände ich mich in einem wiederkehrenden Traum. Nur die Gestalt, die mir auf der Treppe entgegenkam, das Rascheln seines Kaftans, sein flüchtiger Blick, der Duft nach Moschus und Sandelholz, den er hinterließ, gehörten in die unmittelbarere und rätselhafte Gegenwart.
    Es war unser Freund von dem Platz in Kiriat Shoshan, der heimliche Beobachter unseres Hauses: mitsamt Schläfenlocken und Filzhut und einem Gesichtsausdruck enttäuschter Versunkenheit. Unsere Blicke begegneten sich, wir erkannten uns. Er nickte mir zu, fegte an mir vorbei und verschwand mit wehendem Mantel nach unten. Ich stand verdattert da, als Onkel Cobby mich begrüßte.
    »Wer war das?«
    »Ach der! Was hat er gesagt, wie er heißt? Irgendwas Gibreel. Wohnt irgendwo in Mea Shearim.« Mein Onkel schaute abschätzig das Treppenhaus hinunter. »Er wollte den Kodex sehen wie alle.«
    Ich schaute ebenfalls hinunter, sah ihn aber nicht mehr. Im nächsten Moment wurde ich in die feste Umarmung meines Onkels gezogen.
    Jetzt saß ich auf dem braunen Sofa unter dem Gemälde des alten Jerusalem, das, soweit ich mich erinnern konnte, schon immer dort hing: ein verklärtes Bild in Gold und Rosa und Blau. Das Sofa war immer noch in Versandfolie gehüllt, und mir liefen Schweißbäche an der Rückseite der Beine hinunter.
    »Und«, Cobby beugte sich vertraulich vor, »was macht das Liebesleben?«
    Er legte mir eine Hand aufs Knie. Ich legte meine Hand auf seine. Seine Haut war schweißfeucht und voller Leberflecken.
»Ich habe kein

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