Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
gesehen. Es ist etwas im Gesicht, heißt es; es ist etwas in den Augen. Es ist das Lachen oder die Gesten. Es ist Unsinn. Es ist etwas und nichts. Ich bin keine Anthropologin, aber ich denke, man kann guten Gewissens behaupten, dass es überall Shephers gibt.
Vom Temperament her sind wir eine Rasse sanftmütiger Depressiver und resignierter Schlafloser, ein Stamm von Frühaufstehern, die der Welt nüchtern gegenübertreten und sie unerbittlich finden. So kann man vielleicht auch die Eigentümlichkeit des Shepher-Lachens verstehen. Wir sind die geborenen Rechtsanwälte. Wir haben unsere ausgebrannten Künstler und ernüchterten Träumer. Aber jahrhundertelanges Abschreiben hat uns zu Puristen gemacht, zu Liebhabern des Kleingedruckten, zu Sklaven und Meistern in der Kunst der Wiederholung.
Die Kraft der Familie lässt sich jedenfalls an einer bestimmten Sache ablesen: Wir absorbieren die, die hinzukommen. Die Familie nimmt alles auf, was fremd ist, wandelt es um und bildet daraus eine neue Generation von Shephers. Selbst die, die ihren eigenen Namen behalten, werden automatisch Shephers.
Den Namen selbst haben wir erst kürzlich angenommen. Bis in die Neuzeit hinein wurden die Juden im Osten nach ihrer Geburtsstadt benannt, nach dem Namen des Vaters oder ihrem Beruf. Ich weiß nicht, wie wir an den Namen Shepher, der Schönheit bedeutet, gekommen sind, und ich
kann nicht sagen, ob er sich auf den Körperbau oder den Geist bezieht. Aber er hat bei uns Gefallen gefunden und ist uns geblieben, seit wir nach Jerusalem kamen, wo der Gebrauch eines Nachnamens die Postzustellung vereinfachte.
Wir sind eine Familie der Kämpfe und Konflikte. Ich kann die Streitereien nicht zählen, von denen unsere Familiengeschichte so voll ist und die immer noch anhalten, all die Fehden, Dispute, Kabbeleien und Zwistigkeiten, das Schweigen und die Vendettas, die kleinen Brüskierungen und die großen Konfrontationen, die unsere Familientreffen zu einem Alptraum machen. Es genügt wohl zu sagen, dass zu jedem gegebenen Zeitpunkt irgendjemand nicht mit irgendjemand anderem spricht, dass ein Dritter versucht, zwischen den beiden zu vermitteln, und ein Vierter auf eine Entschuldigung wartet. Selbst die Friedfertigsten unter uns werden in Streitigkeiten hineingezogen, die sie nicht verursacht haben.
Heute lebt im religiösen Viertel Mea Shearim ein ganzer Zweig des Shepher-Clans, mit dem seit achtzig Jahren niemand gesprochen hat. Der Grund ist einfach und offensichtlich. Sie sind Extremisten, Mitglieder der ultraorthodoxen Neturei Karta, die der Meinung ist, es dürfe keinen jüdischen Staat geben, bis der Messias kommt. Vor achtzig Jahren, als mein Großvater ein junger Zionist war, wandten sie sich von dem Abtrünnigen ab, und der Riss wurde nie gekittet.
Mein Urgroßvater hatte als einziges Mitglied seiner engsten Familie das Land Israel erreicht. Sein Vetter Hayman, ein Großneffe von der Seite seiner Schwester, kam 1920 mit einer Pioniergruppe nach Palästina. Dreißig Jahre später kehrte er, enttäuscht vom jüdischen Staat, in die Sowjetunion zurück, um das Leben eines echten Kommunisten zu führen. Einige von uns haben Litauen um die Jahrhundertwende verlassen, um nach Amerika zu gehen; daher stammen
die Shepher-Autowerkstätten, ich glaube, im Mittleren Westen, und die kurzlebige Shepher Language School in Boston. Alle anderen wollten ebenfalls gehen, schoben es aber so lange auf, bis es irgendwann zu spät war. Heute erinnert sich niemand mehr an ihre Namen.
Niemand aus meiner Familie ist berühmt. Wir sind Anwälte und Ärzte, Lehrer und Optiker. Ein Cousin von mir war einmal für den »Preis des Präsidenten« nominiert; aber wie meine Tante Shoshanah sagte, behält niemand einen Zweitplatzierten im Gedächtnis. Mein Großvater war recht beliebt, und als er starb, wurde vorgeschlagen, eine Straße in Jerusalem nach ihm zu benennen. Im Lande Israel ist dies das sicherste Zeichen für Berühmtheit. Die Gemeindeverwaltung lehnte aber ab und benannte die Straße nach einem Wissenschaftler. Sie wird von einer Hauptstraße durchschnitten und ist an einem Ende mit einem Poller versperrt. Es wurde kein Schild aufgestellt, und die Straße ist in keinem Stadtplan verzeichnet.
So ist das mit dem Glück der Shephers.
Drittes Kapitel
Hier war ich nun, in dem Garten, in dem ich früher gespielt hatte; nach all den Jahren wieder bei der Familie.
Seltsam, wie die typischen Shepher-Merkmale wieder hervortraten, wie ich die Züge
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