Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
mutiger oder reicher oder (war das möglich?) überzeugter waren als wir, ihre Zelte abbrachen und die Kamele sattelten und ins Gelobte Land zogen.
Einmal hatte mein Vater sich Folgendes überlegt: Er wollte in den Negev gehen und Tomaten anbauen. Er kaufte ein Buch über Tomaten und wartete auf den rechten Augenblick. Und die Zeit verstrich, und er ging nicht in den Negev. Die Zeit verstrich, und die Methoden im Tomatenanbau veränderten sich. Eines Abends saß er mit meiner Mutter zusammen am Küchentisch, und meine Mutter sagte: »Dieser
Plan, den du mal hattest, im Negev Tomaten anzubauen: Das wird doch nichts mehr, oder?« Und mein Vater lächelte und sagte: »Ein Mann muss einen Traum haben.«
Kurz darauf starb mein Vater, den Traum unangetastet, und wurde in einem Bleisarg nach Israel geflogen. Fünf Jahre später starb auch meine Mutter und wurde neben ihm begraben, auf dem Ruheberg vor den Toren Jerusalems.
Zweites Kapitel
An einem vom drohenden Regen schwülen und schweren Abend fahre ich mit dem Taxi durch Tel Aviv, fahre breite Boulevards entlang und schmale Sträßchen, die in Qualm und Verkehr ersticken. Wir bahnen uns einen Weg durch Seitengässchen und zwischen Pollern hindurch, an endlosen Wohnblocks vorbei, kleinen Apotheken, vollgestopften Lebensmittelläden, kleinen Elektrogeschäften. Wir passieren Brachgrundstücke, Gestrüpp, Autowracks, armselige Hütten, neue Einkaufszentren mit Bildern von Hollywoodstars auf der Fassade. Mein Fahrer ist blond und verschwitzt. Er spricht in mehrere Telefone. Er lenkt mit einem Finger. Wir haben uns verirrt.
»Bergstraße, die geht von der Straße der Wunder ab. Oben auf dem Hügel beim Fernsehturm.«
Er hat noch nie von der Straße der Wunder gehört, gibt es aber nicht zu. Sein Finger ist zuversichtlich. Sein Finger ist voller Stolz.
Dies ist die Stadt, die von Zionisten auf Sand gebaut wurde, und was ist daraus geworden? Ein Knäuel aus Sackgassen und Einbahnstraßen, unerwarteten Barrieren und jähen Bordsteinen. Ein Labyrinth, das seine Besucher verwirrt. Eine Stadt, die als Traum begann und immer dichter wurde,
wie ein Dschungel; die weiß begann und jetzt grau ist. Die weißen Traumbilder sind dunkel geworden vom Salz, eine heiße Feuchtigkeit liegt in der verschmutzten Luft; die Luft wummert vom Lärm des Verkehrs und der Arbeit, von Sirenen und Hupen und den Herzen von hunderttausenden Menschen.
Tel Aviv ist nicht wie Jerusalem. Hier wurden keine Tempel gebaut. Es wird kein Messias kommen. Zu allen Zeiten der Geschichte waren hier nur Dünen.
Die Nächte in Jerusalem sind kühl. Die Nächte in Tel Aviv sind mild und schweißtreibend. Die Luft Jerusalems ist voller Pinien und Kräuter. Die Luft Tel Avivs ist voller Teer und Sand.
Einmal Jerusalemer, immer Jerusalemer. Und doch fliehen so viele Jerusalemer nach Tel Aviv. Wenn ich hier leben würde, könnte ich mich nicht zwischen ihnen entscheiden. Meine Seele würde nach Jerusalem gehören, mein Körper nach Tel Aviv.
Mein Fahrer hat sich verfahren, gibt es aber nicht zu. Nach einem rasanten Wendemanöver grinst er mich über die Schulter an, drückt einen Knopf am Taxameter und erklärt: »Ich mach das mal aus.«
Wir sind hoch oben am Gipfel der Stadt. Tief unter uns gehen auf der Promenade nach und nach die Lichter an. Leuchtfeuer erhellen die oberen Stockwerke der hohen Gebäude. Lichterketten säumen das Ufer des dunklen Meeres. Die Stadt erstrahlt in einem permanenten Volksfest, sie tanzt am Rande des wässrigen Abgrunds. Mein Fahrer fährt mich zuversichtlich immer im Kreis, dunkle Gassen hinauf, unbefestigte Wege hinunter, durch Straßen, die an drei Einfahrtverboten-Schildern enden.
Er wirft die Hände in die Luft und sagt: »Näher komme ich nicht heran, ich lasse Sie hier raus.« Ich bezahle
ihn, lache und renne die letzten paar Schritte über den dunkler werdenden Hof. Meine Tante begrüßt mich an der Tür: eine herzliche Umarmung, die uns beiden die Luft nimmt.
»Shula! Die kleine Shula! Bist du es wirklich?«
Wir schauen einander ins Gesicht und wissen, dass wir beide älter geworden sind.
Die Wohnung ist kühl und geräumig, so wie ich sie in Erinnerung hatte, voller Pflanzen und Glas, unglasierter Keramik und afrikanischem Holz. Es gibt eine mit Efeu überwachsene Veranda und ein Fenster mit Blick über das funkelnde Lichtermeer. Einen großen, alten Fernseher, der kaum benutzt wird, und ein reich verziertes Klavier, das nie gespielt wird. Unzählige Dinge,
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