Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
mich die hebräische Sprache lieben. Die hebräische Sprache war wie er: elegant, logisch, präzise. Ein Verb entstammt einer Wurzel, lediglich drei Buchstaben, und wächst wie eine Pflanze durch sieben Konstruktionen: Ich zerbreche, ich zerschmettere, ich werde zerbrochen, ich werde zerschmettert, ich sorge für Scherben; ich werde zum Zusammenbruch gebracht, ich zerstöre mich.
Was lernte ich noch? Ich lernte, dass man jüdisches Geschirr unter fließendem Wasser spült und dass man einen
Ochsen und einen Esel nicht unter dasselbe Joch spannt, um ein Feld zu pflügen. Ich lernte, was man beim Pökeln von Rindfleisch und beim Anbraten von Leber beachten musste, und ich las, dass Glieder, die lebenden Tieren ausgerissen wurden, verboten sind. Außerdem lernte ich singen, mit einer Stimme, die angeblich der eines Seraphs ähnelte. Ich sang die Psalmen, die die heilige Torah feiern, und die Lieder, die die Braut Shabbat willkommen heißen.
Ich war die Buße meiner Eltern. Meine Mutter trug mich wie ein Ehrenabzeichen. Durch mich erhielt sie die Anerkennung der Gemeinde. Wir aßen Kneidlach und Kuggl und Kischkes. Wir tauchten an Neujahr unsere Äpfel in Honig. Und alle paar Wochen stiegen wir sonntags ins Auto und fuhren auf einen Hügel, von dem aus wir ganz England wie ein grünes Patchwork unter uns ausgebreitet liegen sahen, ein Panorama, wie Moses es von der Spitze des Nebo aus gesehen hatte: ein Aussichtspunkt, der im Volksmund Surprise View hieß.
Mein Vater war ein freundlicher, aber schwermütiger Mann. Er arbeitete den ganzen Tag in der Fabrik und vermaß mit seinen dicken Fingern Holzbalken. Die Balken schob er mit seinen Arbeiterhänden in eine Säge. Abends erzählte er mir manchmal etwas, denn in der Lebensmitte erinnerte er sich plötzlich wieder an die Geschichten seiner Jugend: von Sandalfon, dem Schutzengel der Vögel, der auch für die Kinder im Mutterleib zuständig war, und von Metatron, dem Verfasser des Buchs der Geheimnisse und himmlischen Schreiber. Von Moses, der Gott durch ein durchsichtiges Glas sah, und Elia, der ihn durch ein undurchsichtiges sah. Von den Gefahren des Mondlichts und von der Auferstehung der Toten. Am Wochenende spazierten wir durch die Nachbarschaft und klauten in Mr. Mankins Garten Himbeeren und im Stadtpark Bambustriebe. Wir hoben
Münzen vom Gehweg auf und fischten Schmuck aus den Gullys, und überall lernte ich es zu schätzen, langfingrig und scharfsichtig zu sein.
Es gab auch eine Erziehung durch Unterlassung. Dafür war meine Mutter zuständig.
In der Schule hatten wir sehr alte Geographiebücher. Es war eine alte Schule, und alles darin war alt, inklusive der Lehrer. Damals galt das als Qualitätsmerkmal. Eines Nachmittags nahm ich mein Buch mit nach Hause, um eine Karte von Indien durchzupausen. (Wir nahmen damals nur die Länder des ehemaligen British Empire durch.) Meine Mutter schlug den Nahen Osten nach und fand Palästina anstelle Israels.
Meinen Vater, der dort geboren war, brachte das nicht aus der Ruhe, aber meine Mutter wurde fuchsteufelswild. Es gab kein Palästina. Palästina war eine Laune der Kartographen, bestenfalls ein historischer Unfall. Die Kinder, die diesen Atlas benutzten, wurden absichtlich falsch informiert.
Meine Lehrerin erklärte ihr, dass es ein altes Buch sei.
Das interessiere sie nicht, sagte meine Mutter. Wenn das Buch so alt sei, solle da Judäa stehen. Es ging darum, dass das Buch log.
Meine Lehrerin riss sich zusammen und versprach, mit der Schulleiterin darüber zu sprechen. Die Schulleiterin schrieb, alle veralteten Bücher würden ersetzt, sobald der Schul-Etat es erlaube.
Die Religionslehrerin ging auf Nummer sicher. Sie sprach vom Heiligen Land. Das beschwichtigte meine Mutter nicht, sie nannte es feige.
In Wahrheit hatte sie konkrete Gründe, so empfindlich auf die Weltkarte zu reagieren, und die hingen mit der Staatsangehörigkeit meines Vaters zusammen.
Als mein Vater 1938 Palästina verließ, stand es unter der
Verwaltung des britischen Hochkommissariats, Lizenzgeber für Schuhputzer und Eselskarren, und wurde zehn Jahre später unter Gewehrfeuer und zerbombten Bussen und allerlei Theater zum Staat Israel. Doch mein Vater war kein britischer Staatsbürger. In seinem Pass stand »British Subject«, sodass er Ausländer war, wohin er auch ging. Dank seiner englischen Frau und seiner englischen Kinder hatte er Bleiberecht in Großbritannien, aber er war kein Engländer. Noch war er, wie meine Mutter nicht müde
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