Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
Dabei kam mir die traurige Ermahnung meines Vaters in den Sinn: »Ihr müsst nett zu Shoshanah sein: Sie hat keine eigenen Kinder.«
Cobby erzählte mir von der Tragödie ihres kinderlosen Todes und dass niemand an ihrem Totenbett um sie geweint habe. »Na, ich nehme doch an, du hast um sie geweint«, sagte
ich spröde und blätterte Shoshanahs Seite um, weil ich ihr nicht länger in die Augen sehen wollte (denn ich war dann doch nie besonders nett zu ihr gewesen), und dachte: Wenn die Geschichte ein Text sprießender Geschichten ist, wenn sie ein Baum ist, endet dieser spezielle Zweig der Geschichte dann mit mir?
Es fiel mir schwer zu akzeptieren, dass all diese Menschen älter geworden waren, dass so viele Gesichter, die ich von früher kannte, tot waren und die Lebenden in einem kontinuierlichen Prozess, der schon nahezu abgeschlossen war, dahinschwanden. Ich sah meinen Onkel an: Er stand in der hellen Küche mit den orangefarbenen Fliesen am Tisch. Darauf lag ein Käsebrett mit dem Bild eines Hahns, an der Wand hing der Kalender eines Pharmaunternehmens. Onkel Cobby war ein bisschen krumm, zitterte leicht, und eines seiner Augen war trüb. Seine Brille war mit Pflaster geflickt. Wenn er sprach, hörte ich die Stimme meines Vaters.
Der Moment schien mir wie die Ewigkeit, und ich meinte, Schemen und Schatten meines Vaters im Raum zu spüren: seine Gesten, den Klang seiner Stimme, die Konturen seiner Wangen und seines Kinns. Die Form seines Mundes. Ein Teil meines Vaters lebte in seinem Bruder weiter. Ich hatte mir einmal vorgestellt, er würde es in dem Kind tun, das ich nicht hatte.
Als ich meinem Onkel Cobby das Bild von Hannah zeigte, scheinbar ungerührt, hielt er es mehrere Minuten lang zitternd zwischen Daumen und Zeigefinger, schob sich die Brille auf die Stirn, studierte es aus der Nähe, mit dem Blick eines Mannes, der über Jahrhunderte zurückblickte in eine Zeit, so fern, dass sie fast schon vergessen war: eine Ära, deren Gesichter namenlos waren wie die eines vergessenen Traums.
Sein Vater war zurückgekehrt, nachdem die Briten die
Stadt besetzt hatten. Eines Tages spielte Cobby draußen auf dem Hof des Wohnblocks, und ein fremder, aber vertraut wirkender Mann tauchte auf. Cobby war krank gewesen, und als der Mann zu ihm kam und ihn in den Arm nahm, hatte er sich gefürchtet: gefürchtet vor den Khappers , von denen er gehört hatte, dass sie kleine Jungs holten und zur russischen Armee verschleppten. Aber dann waren seine Geschwister herausgepurzelt gekommen und hatten gerufen und geweint, gesungen und getanzt vor Freude: Vater ist wieder da! Vater ist nach Hause gekommen! Und fortan hatte er ein schlechtes Gewissen gehabt, dass er ihn nicht erkannt hatte, dass er Angst vor seinem Vater gehabt hatte.
Sein Großvater, Shalom Shepher - Friede sei mit ihm -, war schon lange auf dem Ölberg begraben. Meine Großmutter hatte das Kästchen mit dem wertvollen Kodex in die Wäschetruhe gelegt. Es war nicht die Zeit, um über so etwas nachzudenken. Von der Wäschetruhe wanderte es in die Rumpelkammer, zusammen mit unzähligen alten Briefen und Dokumenten, die mein Großvater nicht wegwerfen wollte, weil sie in der heiligen Sprache geschrieben waren. Irgendwann wurde das Kästchen auf den Dachboden in Kiriat Shoshan gebracht, wo es beinahe siebzig Jahre lang liegen blieb, bis wir hinaufgingen und es öffneten.
Und die Wahrheit ribbelte sich auf wie Strickware, um eine neue Gegenwart und eine neue Vergangenheit zu schaffen.
Dritter Teil:
Ein Schlag auf den Kopf
Erstes Kapitel
Ich bin eine Ziffer, eine Anmerkung, eine Fußnote in der Geschichte des Hauses Shepher. Ein Samenkorn, fallen gelassen vom Vogel Diaspora, angespült mit dem Traum vom Weiterreisen.
Als mein Bruder geboren wurde, nannten sie ihn Reuben Michael, damit er, wenn er älter war, selbst entscheiden konnte, welchen der beiden Namen er wählen wollte. Dreizehn Jahre lang war er für seine Schulkameraden der jüdische Reuben. Dann traf er seine Wahl und wurde als Mike wiedergeboren. Mike Shepher stritt sich mit seinen Eltern, lief nach London davon und ward nicht mehr gesehen.
Bei mir machten sie diesen Fehler nicht noch einmal. Sie nannten mich Shulamit, um mich daran zu erinnern, dass ich keine Wahl hatte. Sie bemühten sich sehr um meine Ausbildung. Neun Jahre lang besuchte ich den Religionsunterricht in der Talmud-Torah-Schule, und das schwarze Mosaik der hebräischen Bibel ist mir ins Gehirn gemeißelt.
Mein Vater lehrte
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