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Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tamar Yellin
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mit einer alten Muschel an einem Stück Schnur Wasser aus dem überfluteten Rinnstein ziehen. Die Schnur war nicht lang genug, und so holte er sich einen Hocker, beugte sich übers Geländer und fiel, ohne zu schreien.
    Der Student Silber fand ihn. Er wohnte in einem Kellerraum unter meinen Großeltern. Er war unverheiratet, ein begeisterter Gelehrter und sollte mit sechsunddreißig Jahren an Tuberkulose sterben. Er war harmlos, aber bei den Bewohnern des Hauses nicht beliebt, vor allem deswegen, weil er lange Stunden im einzigen Abort verbrachte und die Jiddische Zeitung las. Selbst wenn die Kinder Steine an die Tür warfen, ignorierte er sie und ließ sich Zeit, bis er schließlich unerschüttert herauskam und mit geschmeidiger Hand die Zeitung glättete.

    Er kam vom Einkaufen nach Hause und fand meinen Vater, dessen kostbarer Lebenssaft in den Rinnstein floss. Sein erster Impuls war, die Blutung zu stoppen. Er holte eine Hand voll Kaffee aus seinem Beutel und presste ihn mit zitternden Händen auf die Wunde. Dann hob er den bewusstlosen Jungen hoch und rannte mit langen Beinen den ganzen Weg bis zum Krankenhaus »Tore der Gerechtigkeit«.
    Sie rechneten nicht damit, dass mein Vater wieder gesund werden würde. Der Schädel war aufgeplatzt, das Gehirn lag bloß. Die dicke Paste aus Kaffee und Blut erstarrte zu einer klebrigen, schwarzen Kruste, und diese Kruste bildete einen duftenden Helm über der Wunde meines Vaters, den die Ärzte nicht entfernen konnten, ohne ein weiteres Hirntrauma zu riskieren. Der Kaffee verursachte eine Entzündung, und mein Vater lag noch weitere drei Tage im Koma, während Silber an seinem Bett saß und die Zeitung las.
    Aber nach einer Woche erwachte er aus dem Delirium und hörte den Schrei: Ein Wunder! Seine wundersame Heilung wies darauf hin, dass er für ein ganz besonderes Leben bestimmt war. Als Zeichen dieses Wunders blieb ihm die Narbe auf seiner Stirn: ein düsteres Bild für den dünnen Faden, an dem sein Leben hing.
    Als er sehr klein war, kleidete seine Mutter ihn in einen englischen Matrosenanzug mit kurzen Hosen und einem geknöpften Einsatz, später bekam er eine Norfolk-Jacke und Vatermörderkragen, Knickerbocker und schwarze Kniestrümpfe und schwere Lederschuhe. Seine Taschen waren immer ausgebeult, voller Unfug: eine Blechflöte, eine Hand voll Süßigkeiten, die er auf dem Markt geklaut hatte, fünf Steine für das Fünf-Steine-Spiel, Weidenkätzchen, ein toter Käfer in Butterbrotpapier. Er klaute nur, was von selbst wuchs oder unbeaufsichtigt war; was auch herumlag, fiel seiner Kleptomanie zum Opfer. Er stahl Blumen für seine
Mutter aus den Gärten der Bucharer und Feigen und Pflaumen unter den Augen arabischer Wachmänner. Unter den Kindern seines Alters war er der Gangsterkönig, der Streit schlichtete und Loyalität verlangte und der mit seinem Essensgeld Süßigkeiten kaufte und sie in der Schule mit Gewinn weiterverkaufte. Er machte Geschäfte als Spieler: Es gab Wetten auf das Fünf-Steine-Spiel und Kakerlakenrennen und jeden Sommer das große Bienenflug-Turnier. Später, als er schon besser gestellt war, nahm er Zinsen auf Anleihen. Er ließ sich die jiddischen Klassiker mit der Post schicken: Reise zum Mittelpunkt der Erde und Die Abenteuer des Sherlock Holmes, Tewje, der Milchmann und Der Glöckner von Notre Dame , die er in einem verschlossenen Schrank aufbewahrte und für einen Grush pro Woche verlieh.
    Von seinem fünften Lebensjahr an besuchte er die Jeschiwa »Baum des Lebens«, wo der Rebbe mit einem gekerbten Stock den Takt zur Liturgie schlug und ihn auch regelmäßig auf die Finger der Kinder niedergehen ließ. Den ganzen Morgen über beobachtete er, wie der Schatten der Sonnenuhr am großen Uhrenturm auf der gegenüberliegenden Straßenseite weiterwanderte und wie die Zeiger der beiden Uhren, eine für die arabische, eine für die europäische Zeit, langsam die Stunden seiner Einkerkerung abzählten. Egal, wann er hinsah, die beiden Uhren zeigten nie dieselbe Zeit. Der Rebbe dirigierte, die Kinder wiederholten melodiös:
    El-melech-ne’eman!
Treuer-Gott-und-König!
    Bis die Liturgie in ihre Seelen geschnitzt war wie die Namen in die alten Dielen, auf denen sie saßen.
    Als er neun Jahre alt war, hatte er eine Auseinandersetzung mit dem Rebben. Er kritisierte Jakob, weil er Esau um
sein Erstgeburtsrecht betrogen hatte, und Gott, den Herrn, weil er diesen Betrug guthieß. Der Rebbe schickte ihn wütend nach Hause, wo er den Nachmittag damit

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