Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
ich ihr von meiner Begegnung mit Ben Gibreel, aber dann beiße ich mir im letzten Moment auf die Zunge. Und in diesem Moment fühle ich mich eingewickelt,
hineingezogen in die Geheimhaltung einer Absprache, die noch nicht einmal richtig getroffen ist.
Stattdessen greife ich in meine Tasche und lege, ohne etwas zu sagen, Hannahs Foto auf den Tisch. Einen Moment lang starrt sie es überrascht an und nimmt es dann auf.
»Woher hast du das denn?«
»Aus dem Familienalbum. Weißt du, wer das ist?«
Sie hält das Bild wie ein Artefakt. Der Blick, mit dem sie es betrachtet, ist schärfer denn je.
»Das ist Hannah«, antwortet sie und lächelt mich traurig an. »Sie hätte einmal fast deinen Vater geheiratet.«
Drittes Kapitel
In dieser sagenhaften Geschichte habe ich meinen Vater Amnon genannt, weil Amnon in der Bibel seiner inneren Stimme folgte, und als er am Ziel seiner Wünsche ankam, befriedigte es ihn nicht. Mein Vater folgte seiner inneren Stimme, und sie verspottete ihn dennoch, bis alles, was er kostete, in seinem Mund zu Asche wurde.
Als Kind schuf er den Erwachsenen, der er werden würde. Er hatte einen großen, blassen Mund, die Haut seiner Lippen war rissig, und im Winter platzte die Unterlippe genau in der Mitte auf. Wenn das geschah, konnte er nicht von ihr lassen, er musste immer wieder daran herumspielen, bis karmesinrotes Blut herausperlte. Er tat es im Bett und hinterließ lauter rote Küsse auf dem Kopfkissen. Es gab nie einen Zweifel, welches Kissen seins war. Wenn er sehr still hielt, schaffte er es manchmal, dass sich eine Schorfblase auf der Lippe bildete, mit der er seine Geschwister erschreckte.
Weitere Möglichkeiten waren: die Augenlider nach hinten
drehen, Essen im Mund behalten und gähnen, Gesichtswarzen aus Kaugummi und Haaren.
In Bezug auf seine Ohren war er empfindlich. Wie bei seinen Brüdern standen sie ab wie die Henkel eines Bechers, nahezu im rechten Winkel. Jahrelang versuchte er erfolglos, sie anzulegen. Er schlief auf der Seite oder drückte sie sich mit Tüchern oder Kaugummi an den Kopf. Nichts half. Als er älter wurde, veränderte sich schließlich von selbst etwas - die Form seines Kopfes oder die Form seiner Ohren -, und sie legten sich von selbst an. Aber es blieb dabei, dass seine Ohren der Fluch seiner Jugend waren.
Im Gegensatz dazu betrog ihn im späteren Leben seine Nase. Sie war nicht weiter bemerkenswert gewesen - keine klassische Form zwar, aber insgesamt doch eine annehmbare Nase. Aber als er älter wurde, schwoll sie an, aus den Nasenlöchern wuchsen schwarze Haare, und auf ihrem Rücken vergrößerten sich die Poren. Sie wurde zu dem, was er seine erstklassige Kartoffelnase nannte. Er konnte darüber scherzen, aber die Verformung seiner Nase war demütigend.
Als mein Vater fünf Jahre alt war, schlug er sich den Kopf auf, woran er beinahe gestorben wäre. Der Familienlegende zufolge war es das reinste Wunder, dass er überlebte.
Zu dieser Zeit wohnte die Familie in einer Wohnung an der Jaffa-Straße. Ein im Quadrat angelegter Wohnblock, wie eine Kaserne, mit einem tunnelartigen Eingang, der nachts abgeschlossen wurde. Eine wahre Festung mit einer umlaufenden Veranda, einer Art Galerie, im obersten Stockwerk. Von dort führte eine gemauerte Treppe hinunter. In einer Ecke lag eine winzige Synagoge. Auf dem Hof ein einziger Abtritt und ein Brunnen.
Meine Großeltern hatten eine Zweizimmerwohnung im oberen Stockwerk dieser Anlage gemietet: Eins der Zimmer war, durch einen Vorhang abgeteilt, das Kinderzimmer. Das
andere war Wohnstube, Ess- und Arbeitszimmer; die Eltern schliefen auf einem Klappsofa.
Meine Großmutter kochte sommers wie winters auf der Veranda. Das Wasser für den Haushalt füllte sie in einen alten Steinkrug. Sie hängte die Wäsche über der schmalen Gasse auf, wo sie manchmal von vorbeiziehenden Kamelen heruntergerissen wurde. Sie schrubbte die Kleider mit gelber Nablus-Seife.
Im Winter gingen die Jungen morgens zu der kleinen Synagoge und rösteten Kartoffeln in der Asche des verlöschenden Ofens. Sie steckten sie sich in die Taschen und nahmen sie mit zur Jeschiwa »Baum des Lebens« auf der anderen Seite der Jaffa-Straße.
Es war November, der Monat des schießenden Regens. Die Straße unterhalb der Wohnung wurde zum Fluss. Rinnen und Furchen gruben sich in die Hintergässchen. Der Hof des Wohnblocks war voller Pfützen.
Meine Großmutter kochte auf der Veranda Tscholent. Mein Vater spielte auf dem hinteren Balkon: Er wollte
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