Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
Schnickschnack, eigenartige Souvenirs. Eine große Wand mit Büchern aller Arten und Größen: Alben, Kataloge, Enzyklopädien, antiquarische Wörterbücher und Kompendien, Lyrik und Strandlektüre, Prachtbände und zerfledderte Taschenbücher, eine Picasso-Biographie und das Kleine Rote Buch des Großen Vorsitzenden Mao.
An den Wänden hängen Gemälde, die ich nicht kenne, kraftvolle und farbenfrohe geometrische Muster, Landschaften, so minimalistisch, dass sie fast abstrakt wirken. Ein fröhliches Durcheinander von Experimenten. Meine Tante Miriam wollte schon immer malen. Stattdessen heiratete sie, bekam Kinder, wurde Lehrerin. Ihre Ambitionen wurden Vergangenheit. Jetzt, als Witwe, ist sie zu ihrer ersten Liebe zurückgekehrt und Künstlerin geworden.
Die Verandatür steht offen, und irgendwo dort unten vermute ich das offene Meer, hinter den hohen Wohnblocks, die Jahr um Jahr dichter werden und den Blick versperren; aber der Atem des Meeres liegt in dem Lüftchen, das sanft von einer Seite der Wohnung zur anderen streicht, von der
offenen Veranda zum offenen Küchenfenster mit Blick über die Vororte in die weiter entfernten Hügel.
Nun sitze ich wieder in der gemütlichen Küchenecke, während sie zwischen Schrank und Herd hin- und herläuft. In ihrer weiten Hose, den Schuhen mit den dicken Sohlen und mit dem kleinen Zopf, den sie auf so charakteristische Weise über die Schulter zurückwirft, erinnert sie mich an ein Shetlandpony. Sie hantiert mit kleinen, verbeulten Pfannen, und ich betrachte die Fliesen mit den Eseln darauf, an die ich mich noch erinnere, und das Wandregal mit der Cherrybrandy- und Likörsammlung meines verstorbenen Onkels, sorgsam abgestaubt und Jahr um Jahr unangetastet.
»Was für ein Theater mit dem Kodex, hm? Auf einmal ruft meine Cousine Sara Malkah an. Sie behauptet, er gehört ihnen, und mein Vater hat ihn gestohlen.« Sie stupst mich an der Schulter. »Wo bist du denn da reingeraten, Shula, hm?«
Meine Tante Miriam ist alt geworden, wirkt aber immer noch wie eine kleine, feste Kugel aus neugieriger Energie, den Kopf leicht nach vorne geschoben, die Stirn nachdrücklich gerunzelt: lebhaft wie ein Vogel, aber deutlich intellektueller. Selbst ihr Lächeln ist ein Stirnrunzeln, das sich von ihren Mundwinkeln aus aufwärtszieht und ihre Stirn in hundert Falten legt.
»Erzähl mal, Shula, singst du noch?«
»Nein. Ich singe nicht mehr.«
Der Tisch ist mit Essen überladen: Oliven und Eingelegtes, Hummus und türkischer Salat, salziger weißer Käse und Mohnbrot, verschiedene Auberginengerichte und in Zucker und Essig gekochtes Hühnerfleisch. Ich esse, und Miriam sieht zu, ihren eigenen Teller ziert eine halbe Tomate, die sie nicht anrührt. Sie nippt beim Sprechen an einer Tasse mit heißem Wasser.
Sie war die Lieblingsschwester meines Vaters. Ich sehe ihn
in ihren freundlichen, leicht affenartigen Zügen. Manchmal steht sie genauso da wie er. Ich sehe seinen Geist in all ihren Gesten; wie ein Bruder eben auf unbegreifliche Weise in seiner Schwester lebt oder eine Mutter in ihrem Sohn.
»Und wie geht’s dir - was machst du so?«
Ich lächle sie an. In der ganzen Familie ist sie diejenige, mit der ich reden kann, der ich Geheimnisse anvertrauen und zu der ich offen sein kann. Sie wird sich freuen und sich darüber amüsieren, dass ich auf meine Weise in die Fußstapfen der Familie getreten bin, dass ich Stammgast in der Bibliothek bin und Texte liebe: dass ich unsere naturgegebene Neigung zum Überprüfen von Fakten und zur Detailverliebtheit voll auskoste. In einer früheren Generation, in einer anderen Haut, hätte ich Schriftrollen überprüfen oder Schreiberin sein können. Jetzt bin ich das weltliche Gegenstück und nutze meine Adleraugen zum Aufspüren von Hinweisen und Fehlern.
Ich bewundere ihre Bibliothek und erzähle ihr von meiner. Ich habe eine niederländische Bibel aus dem siebzehnten Jahrhundert, erzähle ich ihr, die Krönung meiner Sammlung, mit Windmühlen, einem säbeltragenden Löwen und einigen hebräischen Buchstaben als Frontispiz. Ich habe eine Bialik-Erstausgabe, die ich im Internet gefunden habe. Ich habe zu Hause in England Bücher, die ich vermissen würde wie Kinder, wenn ich zu lange fortbliebe. Ich erzähle ihr auch von meiner wissenschaftlichen Arbeit, meiner verhinderten Karriere, meiner endlosen Suche nach dem Urtext. Miriam beobachtet mich und meine Begeisterung genau.
»Dann kommst du ja gerade recht«, bemerkt meine Tante.
Fast erzähle
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