Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
erzählen? Lange Zeit habe ich gedacht, ich hätte nicht das Recht, glücklich zu sein, und doch war ich einige Monate lang glücklich. Jetzt bin ich allerdings wieder unruhig. Ihr werdet sagen: Man kann es ihm auch nicht
recht machen. Aber was soll mir auch recht sein, wenn meine Situation so hoffnungslos ist und ich, wohin ich mich auch wende, nur enttäuscht werde? Aber damit will ich mich nicht länger aufhalten: Es ist nur, dass ich euch einen Brief versprochen habe, und da ich ihn mit irgendetwas füllen muss, nehme ich das, was gerade anliegt. Ihr werdet mein Gejammer mit Fassung tragen und denken: »Es ist nur Amnon.«
Das Problem, das ich im Moment habe, ist ein spirituelles. Will sagen: Ich bin im Osten und mein Herz im fernen Westen. Oder anders ausgedrückt: Ich spüre den dringenden Wunsch, nach England zu gehen. Der Haken ist, mein Herz steckt in meinem Körper, und mein Körper hat keine Flügel: eine Last, und nichts, was sie trägt.
Hätte ich Flügel, würde ich schnurstracks zum Horizont fliegen, das weiß ich. Wenn ihr nun einwendet, der Horizont sei nicht erreichbar, dann muss ich mit der Unruhe der Jugend antworten, dass ich das noch erst herausfinden muss; ohne Flügel kann man die Reise jedenfalls gar nicht erst antreten.
Ihr braucht euch nicht zu sorgen, dass ich zu dicht an die Sonne fliegen könnte: Meine Erwartungen sind ziemlich bescheiden. Ich möchte nur frei sein, um mich weiterzuentwickeln. Und wo sonst hätte ich die Gelegenheit dazu, wenn nicht in England? Britannia wird mich aufnehmen: Schließlich bin ich ihr Subject . Ich werde dort also festen Boden unter den Füßen haben, selbst wenn es der morastige Boden Englands ist, und er kann auch nicht unversöhnlicher sein als das, was ich hier gewohnt bin.
Wenn ich Sand gegen Schlamm eintausche und Sonnenschein gegen englischen Nebel, dann ist das
meine Entscheidung, und ich werde das Beste daraus machen. Ich möchte nur die Gelegenheit ergreifen.
Aber jetzt muss ich erst mal wieder nach Ägypten, das heißt in die Sklaverei: Herr Wasserstein ist mein Aufseher.
Übrigens hat Hannah sich in dieselbe Tretmühle begeben wie ich, nur dass Lehrerin wie Schüler deutlich talentierter und begeisterter sind: Sie machen auf der Violine schönere Musik, als ich es mit den unregelmäßigen Verben je geschafft habe.
Grüß mir alle: das kleine Bubele, das Mejdele und so weiter - auch die Großen, denen ich lieber keine Spitznamen geben will …
Wie seht ihr meine Chancen, wenn ich jetzt abhebe, bevor ich zu alt bin, meine Flügel zu spreizen? Bitte antwortet.
Seid gesegnet
Amnon
Jerusalem, DHS, 29. Adar
Lieber Sohn!
Wir haben deinen Brief vom 25. Februar erhalten. Zusammengefasst war sein Inhalt: Du hast keine feste Stelle gefunden. Du gibst nicht gerne Privatstunden. Du willst nach England gehen. Du hast nicht die Mittel für die Reise.
Die Schlussfolgerung aus dieser Zusammenfassung scheint auf der Hand zu liegen: Man muss sich bemühen, die Mittel zu beschaffen. Wir sind dazu bereit. Die Situation ist im Moment ein bisschen schwierig, aber wir werden versuchen, uns das Geld zu leihen.
Du musst nun also in Erfahrung bringen, wie hoch
die Kosten sind, und wie viel Geld du mindestens benötigst, dann werden wir versuchen, die Summe aufzutreiben. Dafür musst du natürlich zuallererst die feste Absicht haben, deinen Plan in die Tat umzusetzen, und dann vor allem die Kosten berechnen.
Sei gesegnet und gegrüßt, vor allem von deiner Mutter.
Ich erwarte deine detaillierte und endgültige Antwort.
Dein Vater,
Joseph
Tel Aviv, 4. Juli 1938
Ihr Lieben, hier war den ganzen Tag über die Lage angespannt, ebenso wie bei euch in Jerusalem. Jetzt ist es relativ ruhig auf den Straßen. Ich war vorhin am Kontrollpunkt der Polizei, an der Kreuzung Allenby- und Carmel-Straße am Potsdam-Platz, wo man sich an die Straßenabsperrung lehnen kann (wie die an der Kreuzung Jaffa-Straße und Hamelech George in Jerusalem). Mit dem Rücken zu den Gesetzeshütern und dem Gesicht zum Volk kann man die Passanten beobachten und ihren Diskussionen lauschen. Man muss die Ohren nicht mal besonders spitzen - in dieser Stadt erheben alle ihre Stimmen, es ist eine Stadt der Schreihälse, eine Sprache antwortet der anderen, niemand versteht irgendwas, aber das entmutigt sie nicht, sie schreien einfach noch lauter. Zusammen ergeben sie ein babylonisches Stimmengewirr, das wir den Potsdamer Chor nennen.
Im Moment werden an den Ecken des Platzes
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