Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
erfahrenen Augen.
»Ja«, antworte ich. »Ja, ich glaube schon.«
Elftes Kapitel
Irgendwo in diesem Ordner steckt ein Brief, ein langer, weißer Brief in kleiner, schwarzer Schrift, auf herausgerissenen Seiten aus einem Schulheft geschrieben, auf blaues Luftpostpapier übertragen, in einem Umschlag über dreitausend Meilen verschickt, gelesen und wieder gelesen, in einer Schublade verwahrt, aus der Schublade genommen, auf ein Feuer geworfen und wie ein blauer Schmetterling in einer Rauchwolke in die Luft gehoben, bevor er Feuer fing, drei Augenblicke brannte und dann zu Asche wurde.
Irgendwo in diesem Ordner steckt ein Brief, aufbewahrt aus irgendeinem Grund, den ich nicht kenne, beiseitegelegt für einen Zweck, den ich nie erfahren werde. Vielleicht war es dieser hier:
Unsere Grüße, unsere innigste Freude, unsere herzlichsten Glückwünsche für euch zur lang erwarteten Geburt eures wunderschönen Sohnes!
Oder vielleicht dieser:
Gestern bin ich bis zum Mandelbaum-Tor gegangen, eine Strecke, die mir Zeit zum Nachdenken verschaffte und außerdem schmerzende Füße - ich dachte, wie seltsam diese Teilung ist, diese Straße, die in Ruinen endet, und der Stacheldraht, der scheinbar jeglichen Zugang zur Vergangenheit verwehrt - zu den Schauplätzen und Orten meiner
Kindheit in diesem verwundeten Jerusalem. All diese Schauplätze sind verschwunden, die meisten Menschen fort. Es ist natürlich ein Leben, das schon lange im Sterben gelegen hatte, bevor der Krieg es tötete - schon lange hatte ich die Altstadt kaum noch besucht. Aber es ist eigenartig und bezeichnend, durch Befestigungsanlagen von den Straßen der eigenen Vergangenheit, von der eigenen Kindheit getrennt zu sein, wenn nur noch so wenig Zukunft vor einem zu liegen scheint.
Oder war dies der Brief, den mein Vater beiseitegelegt, extra aufbewahrt, gelegentlich wieder gelesen hat?
Am letzten Shabbat war sie bei uns. Ihr Besuch, das muss ich wohl nicht extra erwähnen, kam vollkommen unerwartet. Sie sah gut aus, ich fand sie hübsch, sie schien sich aber trotz unseres herzlichen Empfangs zu schämen. Ich habe mich nach Kräften darum bemüht, dass sie sich wohlfühlt, und ich bin froh, dass sie nach und nach auftaute. Saul meint, wir hätten sie nicht willkommenheißen sollen; aber der Schmerz lag bei uns und vor allem bei dir und nicht bei ihm, und ich muss sagen, dass ich eine solch schroffe und unversöhnliche Einstellung nicht gutheißen kann; denn sie hatte die Umstände nicht allein zu verantworten, und das Unglück ist keinesfalls nur ihr anzulasten.
Sie unterrichtet wieder an der Musikschule und hat vor einiger Zeit ihren Abschluss gemacht. Sie will an der Philharmonie vorspielen. Von ihrem Privatleben hat sie nicht viel erzählt, und ich mochte sie nicht fragen, denn sie war offensichtlich gekommen, um sich mit uns zu versöhnen und weil sie wirklich wissen wollte, wie es uns geht.
Sie hat natürlich nach dir gefragt, und ich habe ihr erzählt,
dass du verheiratet bist. Ich soll dir ihre Glückwünsche ausrichten, und sie wünsche euch alles erdenklich Gute.
Sie hat ihre Adresse nicht hiergelassen, aber ich glaube, sie hat jetzt eine Wohnung in der Trumpeldor-Straße.
Mein Sohn, du musst den Weg gehen, den du eingeschlagen hast. Zu sagen, du habest ihn nicht gewählt, hieße den eigenen Willen verleugnen. Die Fehler der Vergangenheit bilden das Fundament für die Zukunft. Wir müssen auf ihnen aufbauen, wenn wir nicht zerstört werden wollen.
Deine Mutter und ich haben dir deine Entscheidungen nie zum Vorwurf gemacht und werden es auch nie tun.
Irgendwo in diesem Ordner steckt der kostbare Brief. Und wenn ich sie tausend Mal lese, werde ich nicht erfahren, welcher es ist.
Mein Großvater starb im Winter sechsundfünfzig an einem Anfall, am Ende zerbrochen an dem Jerusalem in seinem Herzen, an der immer noch geteilten Stadt, in der Stacheldraht von Sanhedria nach Ramat Rahel verlief.
Zwölftes Kapitel
Später am Abend kommt Miriams Enkel vorbei, ein großer, breitschultriger junger Mann in Uniform, an den ich mich als kleinen Jungen erinnere. Ein Riese mit kantigem Kinn und gewaltigen Stiefeln. Es ist kaum zu glauben, dass es nur zwei Generationen gebraucht hat, um aus einem Vögelchen solch ein Monster hervorzubringen.
Er sitzt da und füllt die Ecke der Küche aus, vertilgt den Rest des Essens, vernichtet die Törtchen. Er stellt mir lakonische Fragen. Seine Stimme ist monoton. Er strahlt ein träges
Selbstvertrauen aus. Ihn
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